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Eine kurze Geschichte des homo sapiens

von unserem Gastautor Dr. Emil Kowalski

Unbestätigten Berichten zufolge litt vor 200’000 Jahren ein Menschenaffe im subsaharischen Afrika an Haarausfall. Seine Freunde wendeten sich ab, seine Partnerin kündigte die geplante Verlobung auf. Er fror trotz der tropischen Wärme, weil die Nächte frostig waren. Die Lage schien aussichtslos. Bis ihm die Lösung einfiel.

Kurz vor der drohenden Unterkühlung verzichtete der nackte Affe auf die angeborenen Instinkte und ersetzte sie durch ein protohumanes Grübeln. Was, dachte er, wenn ich mich in das Fell einer erlegten Gazelle einwickle? Er schritt zur Tat, und genoss die wohltuende Wärme. Diese Episode beschleunigte die bis dann rein biologische Entwicklung der Gattung Homo um Größenordnungen und beraubte sie der normativen Kraft der Umwelt. Anstatt eine zufällige Mutation abzuwarten und ihre Folgen an der Reaktion der Umwelt zu testen, statt sich also blind dem Darwin’schen Gesetz des biologischen Survival of the Fittest zu unterwerfen, beschloss der Affe, die Szenarien seiner möglichen Entwicklung zu analysieren und an seiner Zukunft aktiv denkend mitzuwirken. Fortan nannte er sich im Vorgriff auf seine Zukunft homo sapiens, und huldigte dem Gesetz des «Survival of the Smartest».

Die Strategie bewährte sich – die Chancen zu nutzen und den Gefahren vorzubeugen, statt sie zu erdulden, das ging besser als sich der feindlichen Umwelt sklavisch unterwerfen zu müssen. So wurde der Mensch zum Herrn seiner selbst. Statt sich der Natur anzupassen, beschloss der Mensch damals, die Natur, genauer seine Beziehungen zur Natur, seinen Bedürfnissen anzupassen. Und errichtete zwischen der menschlichen Existenz und der Natur eine dicke schützende Isolationsschicht, die Kultur, ein zivilisatorisches Interface. Fortan konnte der Mensch das Ziel seiner Entwicklung selbst bestimmen. Er konnte beschliessen, an einer zunehmend besseren Befriedigung seiner Bedürfnisse zu arbeiten. Er konnte zwischen Askese und Hedonismus wählen und musste seine Ziele nicht allein am kargen Ready-made Angebot der Natur ausrichten.

Die Existenz des Mensch gewordenen Affen bekam eine metaphysische Komponente, den freien Willen. Es war ihm möglich, Moralsysteme zu konzipieren, Aberglauben zu pflegen, Verschwörungstheorien zu glauben und Kunstwerke zu erschaffen. Das war die Geburt des bewussten Denkens, eines zielgerichteten Vorgehens, das später zum Handwerk und zu technisch-wissenschaftlichen Disziplinen führte.

War dem Menschen kalt, so liess er sich keine schützende Behaarung mehr wachsen, sondern hüllte sich in die Felle erlegter Tiere. Er wurde stolz, der «Nackte Affe» zu sein und kultivierte konsequent seine Flucht vor der Natur. Er nutzte die Naturressourcen, aber nur, um sich von der Umwelt mehr und mehr zu isolieren. Dem Mangel fehlender Reisszähne des Tigers und der Krallen des Bären begegnete er durch die Erfindung der Streitaxt und des Speeres, und durch die Taktik der Treibjagd. Mit der Zeit mied er die unsichere Jagd nach tierischer Beute, wurde sesshaft und baute Stallungen, in welchen er lebende Vorräte wichtiger Proteine züchtete.

Das Sammeln wetterabhängiger Naturgaben des Waldes ersetzte er durch die Kultivierung des Bodens, durch Bestellen von Feldern und Gemüsebeeten – er ließ die Nahrung unter seiner Kontrolle wachsen, statt sie suchen zu müssen. Zur Entlastung seiner Zähne zähmte er das Feuer und erfand das Kochen.

Sein Antrieb war die ständige Unzufriedenheit mit dem Status quo und seine Überzeugung, dass man alles Gute noch besser machen kann – der Drang nach Fortschritt. Das Ergebnis der Entwicklung war die Ausweitung und Konsolidierung der Isolation des Menschen von der natürlichen Umwelt. Die robuste Schutzschicht nennen wir heute technisch-wissenschaftliche Zivilisation. Geschützt durch die Zivilisation vor der unberechenbar feindlichen Natur erfreut sich homo sapiens eines guten Lebens, dessen Basis auf Technik, Wissenschaft und Wirtschaft beruht, auf seinen kognitiven Leistungen.

Der Mensch erfand das Denken. Die Rückkehr in die paradiesischen Träume seiner tierischen Vergangenheit bleibt ihm verwehrt. Und es blieb nicht beim simplen Denken. Nach und nach wurde dem Menschen bewusst, dass er denkt, und er begann auch darüber nachzudenken. Er realisierte, dass ihn sein zunehmend abstraktes Denken von seinen tierischen Vorfahren unterscheidet und wurde stolz darauf. Er wurde sich dessen bewusst, dass ihn von den Tieren eine qualitative Grenze trennt, dass er über das Bewusstsein seiner selbst im Unterschied zu den anderen Lebewesen verfügt.

Er begann nach dem Zweck und Ziel seiner Existenz zu fragen und erfand Philosophie und die Theorien der Emergenz, Religionen und die Theologie. Er begann das Denken zu denken. Karl Jaspers bezeichnete mal die Zeitspanne zwischen rund 800 bis 200 Jahren v. Chr. als die «Achsenzeit» der Geschichte des Menschen, in der das Denken über Denken gleichzeitig in verschiedenen Gebieten mediterraner Länder Europas, im Nahen Osten, in China und in Indien zu hoher Blüte gekommen ist, in der grundlegende Schriften verfasst wurden und epochal wirkende Denker lebten, nennen wir nur Konfuzius, Laotse, Buddha, Zarathustra, die Propheten des Alten Testaments, Elias oder Jeremias, den griechischen Vorsokratiker Parmenides und später Platon, Aristoteles und Thukydides. In Europa und Nahost wurde damals die Grundlage der abendländischen Philosophie und der abrahamitischen Religionen gelegt, die bis heute wirksam ist – die Wurzeln der alttestamentlichen Überhöhung des Menschen als Abbild Gottes, mit dem Gebot «Macht euch die Erde untertan».

Und so wurzelt in der Erbschaft der Achsenzeit auch unsere moderne technisch- wissenschaftliche Zivilisation, die liberale Demokratie der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, der Wohlstand der westlichen Demokratien der Gegenwart … und die Klimaprobleme der steigenden Erdtemperaturen. Heute erleben wir einen Bruch dieser Entwicklung. Die achsenzeitliche Auffassung der Natur als einer unerschöpflichen Ressourcenquelle zur Selbstbedienung des Menschen wird in Frage gestellt. Der Mensch verkennt seine kognitiven Fähigkeiten und der Optimismus, welcher der Achsenzeit folgte, gerät in Verruf. Statt sich auf die Kraft seines wissenschaftlich geprägten Denkens zu besinnen und nach potenten Technologien zur Beherrschung der aufkommenden Probleme zu suchen, wird der Mensch seit Mitte des 20. Jahrtausends vom Verdacht geplagt, dass er sich an der Natur versündigt hat und Abbitte leisten muss. Neue Propheten der Rückkehr predigen heute ein Zurück zur Natur. Nicht die Natur hat dem Menschen zu dienen, mahnen sie, sondern der Mensch habe sich als Beschützer ihrer jungfräulichen Unberührtheit zu verstehen und seine Ansprüche auf einen begrenzten, quantitativ berechenbaren kleinen «Fußabdruck» zu beschränken. Dem Primat der Leistungsfähigkeit seiner potenten Technologien hat der Mensch zugunsten von ökologisch allein zulässigen «Grünen» Lösungen abzuschwören.

Der Wohlstand und die liberal-demokratischen Freiheiten werden heute in Frage gestellt, das Ende des Aufbruchs der Achsenzeit wird proklamiert. Stehen wir vor einem gegenläufigen Paradigmenwechsel? Blüht uns eine Achsenzeit 2.0, eine Zeitenwende der Rückabwicklung des bisherigen Fortschritts? Und dies in einer Zeit, in welcher die galoppierende Entwicklung der Künstlichen Intelligenz eine andere Achsenzeit zu befürchten lässt, in der das Denken des biologischen Homo Sapiens durch das «Denken» von KI-Maschinen aus Silizium und anderen Halbleitern übertroffen wird. Werden wir die Herausforderung einer Achsenzeit 3.0 zu meistern haben – in welcher die Computer der Künstlichen Intelligenz merken, dass sie «denken»? Und lernen, über das «Denken zu denken», was ihnen ein quasihumanes Bewusstsein ihrer selbst bescheren dürfte?

Beschliessen sie dann, uns Menschen mit alten Eiweiss-Computern im Kopf als willkommene Sklaven minderer Intelligenz zu halten – gleich wie wir Menschen Herden von Nutztieren für Milch und Fleisch für unsere Ernährung benötigen, nur um die Erneuerung und Mehrung ihrer aus Bits und Bytes bestehenden Silizium-Körper in irdischen Fabriken sicherzustellen? Dieses utopische Szenarium macht mehr Sorgen als die apokalyptischen Fantasien der Grünen, wonach wir die Klimaschwankungen nur durch eine drastische Änderung unseres Lebensstils und durch ein «degrowth» unserer Wirtschaft unter Kontrolle bringen, durch dirigistische Eingriffe in unsere Demokratie, durch Verbote potenter Technologien wie die Kernkraft.

Wir Vertreter des rationalen Denkens sollten uns an die erfolgreiche Geschichte des Survival of the Smartest besinnen. Und sowohl den Träumereien der weltfremden Ökoaskese als auch den Ängsten vor dem Missbrauch Künstlicher Intelligenz Absage erteilen. Zugunsten realistischer Lösungen für das Weiterbestehen unseres historisch so erfolgreichen Modellseiner technologisch offenen Demokratie mit liberaler Marktwirtschaft.

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4 thoughts on “Eine kurze Geschichte des homo sapiens”

  1. Das sollte zur Pflichtlektüre für alle Apokalyptiker erklärt werden.
    Zu diesem Thema kann ich auch das Buch “Superabundance” von Tupy und Pooley empfehlen. Eine völlig neue Sicht über unsere Ressourcen.

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