Lauert der Tod im Crevettencocktail?

von Gastautor Dr. Walter Rüegg*

Müssen Crevettencocktails verboten werden?

Mit Polonium-210 (Po-210) wurde 2006 der russische Ex-Agent Litwinenko ermordet, vielleicht auch der Palästinenserpräsident Arafat. Po-210 ist ein starker Alpha-Strahler, extrem radiotoxisch, viel stärker als Plutonium. Für Erwachsene wirkt es etwa 100-mal, für Kleinkinder sogar 1000-mal toxischer als das berüchtigte Cs-137 aus Tschernobyl oder Fukushima. Po-210 kann man in Kernreaktoren herstellen, es kommt auch in der Natur vor, als eines der Folgeprodukte beim Zerfall von Natururan.

Meereswasser enthält viel Uran, rund 3,3 Tonnen pro km3. Als Folge davon gibt es in den Ozeanen viel Po-210, so viel, dass man damit die gesamte Menschheit gut 10-mal umbringen könnte. Meerestiere reichern Po-210 stark an, die durchschnittliche Konzentration liegt bei etwa 10 Bq/kg, dies entspricht risikomässig 1’000 bis 10‘000 Bq/kg Cs-137 (mit Bq messen wir die Radioaktivität, in Anzahl Zerfälle pro Sekunde). Rekordwerte findet man in Muscheln und Krustentieren, 200 Bq/kg wurden schon gemessen, äquivalent einem Horrorwert von 20‘000-200‘000 Bq/kg Cs-137. Lebensmittel mit mehr als 600 Bq/kg Cs-137 betrachten die Behörden als zu gefährlich für den Verzehr. Die Strahlenschutzverordnung des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) verbannt sie vom Speiseplan. Konsequenterweise müssten die Behörden den Konsum von Meerestieren, besonders von Meeresfrüchten, auch verbieten. Denn gemäss dem Lebensmittelgesetz (LMG, SR 817.0) müssen alle Lebensmittel „sicher“ sein, sie dürfen die Gesundheit nicht gefährden.

Etwas Polonium gefällig? Ja gerne, aber bitte kein Cäsium.

Wir sitzen in einem gepflegten Restaurant. Zum Auftakt wird ein feines Muschelsüppchen serviert, mit 40 Bq Po-210/kg gewürzt, gefolgt von einem Crevettencocktail mit 20 Bq Po-210/kg. Der strahlende Höhepunkt: ein perfekt gegarter Wildschweinbraten, mit 700 Bq/kg Cs-137 gespickt – leider illegal. Der Bannfluch der Strahlenschutzverordnung fegt ihn vom Tisch. Doch die Vorspeisen, obwohl risikomässig viel gefährlicher als das Wildschweinfleisch, darf man essen. Etwa weil Po-210 von Mutter Natur stammt, Cs-137 aber in Kernkraftwerken entsteht?

Meeresfrüchte verbieten?

Verbannen wir Meerestiere von unseren Tellern, entsteht ein grosses Dilemma: Der Konsum von Meerestieren gilt als ausgesprochen gesund, eine grosse Anzahl von Studien belegt dies. Die WHO/FAO empfiehlt 250-500 g pro Woche zu essen – setzt uns damit einem Risiko von bis zu mehreren tausend Bq Cs-137 aus, jede Woche! Die Japaner konsumieren ein Mehrfaches der WHO-Empfehlung – und haben die höchste Lebenserwartung.

Gefährlich – aber im Vergleich zu was?

600 Bq/kg Cs-137 gelten als ungeniessbar. Aber wie gross ist die Gefahr wirklich? Ohne Vergleiche können wir ein solches Risiko nicht einordnen, hier ist einer: Haben sie Angst, in der Schweiz ermordet zu werden? Oder zu ertrinken? Nein? Dann sollten sie auch keine Angst haben vor dem Verzehr von 0.5 kg Wildfleisch (durchschnittlicher Jahresverbrauch pro Person), mit 700 Bq/kg Cs-137 «verseucht». Denn dieses Risiko ist mehr als 10-mal kleiner. Zudem: die Risikowerte für Ertrinken und Mord sind «todsicher» richtig, basieren auf real existierenden Leichen. Der Risikowert für die winzige Dosis von Cs-137, berechnet mit den konservativen Formeln der Behörden, ist rein hypothetischer Natur, meilenweit weg von jeder Nachweisbarkeit. Selbst wenn wir jährlich 100 kg des «verseuchten» Fleisches essen: Die Strahlendosis ist immer noch viel kleiner als diejenige, welche wir so oder so von der natürlichen Untergrundstrahlung erhalten – mit grossen Variationen. Mehr noch: Gerade in neuerer Zeit wurden grosse wissenschaftliche Studien veröffentlicht, welche bis zu mittleren Dosen keine negativen Effekte finden. Und die bisher mit Abstand grösste epidemiologische Humanstudie zeigt bei kleinen Dosen einen gesundheitlichen Nutzen, hochsignifikant. Wie auch eine ganze Reihe von hochwertigen Tierversuchen. Ist etwas Radioaktivität vielleicht doch gut?

Die Schlussfolgerung: Unsere «radioaktiven» Grenzwerte sind eindeutig zu viel des Guten. Sie haben mehr mit einer tief verankerten Phobie vor kleinsten Strahlendosen zu tun als mit dem Schutz der Gesundheit. Vielleicht «Politisch» so gewollt, im Kampf gegen die Kernkraft? Unsinnig tiefe Grenzwerte führen zu einer ausufernden Bürokratie, zur Verschwendung unserer finanziellen Mittel. Das Gesundheitswesen, die Industrie und die Kernkraft werden zu Mehrkosten in Millionen- bis Milliardenhöhe verurteilt, ohne jeden Nutzen.

W.Rüegg, Endingen


* Dr. Walter Rüegg ist promovierter Kernphysiker, 15 Jahre ETH Zürich und im Schweizerischen Institut für Nuklearforschung auf dem Gebiet der Kern-, Teilchen-, Festkörper- und Biophysik. 25 Jahre ABB-Konzern Mitglied des Konzernforschungsstabes. Chefphysiker in der Schweizer Armee (Radioaktivität, Nuklearwaffen). Politisch unabhängig.

Lesen Sie auch die Beiträge “Walter Rüegg im Gespräch mit Eduard Heindl” und “Walter Rüegg über Fukushima und die Folgen” in unserem Blog sowie – sehr empfehlenswert – Rüeggs Buch “Zeitalter der Ängste. Aber fürchten wir uns vor dem Richtigen?”.

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Dies ist ein Blog von Autoren, deren Meinungen nicht mit denen von CCN übereinstimmen müssen.

3 thoughts on “Lauert der Tod im Crevettencocktail?”

  1. Und erst das ach so gesunde Mineralwasser! Dazu hält das deutsche Bundesamt Strahlenschutz BFS fest

    In Abhängigkeit von den örtlichen hydrogeologischen Gegebenheiten und unterschiedlichen Gehalten der Untergrundgesteine an Uran und Thorium variieren die Aktivitätskonzentrationen der im Mineralwasser enthaltenen natürlichen Radionuklide der radioaktiven Uran- und Thorium-Zerfallsreihen, wie zum Beispiel

    Uran-238, Uran-235, Uran-234, Radium-226, Radium-228, Blei-210, Polonium-210, und Actinium-227.
    Die natürliche Radioaktivität wurde lange nicht untersucht, da sie naturgegeben sei. Deshalb seien auch keine Grenz- oder Richtwerte festgelegt worden.
    So gibt es halt gefährliche und ungefährliche Radioaktivität. Entscheidend ist nicht die Dosis, sondern die Herkunft. Welch ein Unsinn!

  2. Hervorragender Beitrag. Danke.
    Könnte man diesen Beitrag einem eidgenössischen Parlamentarier zukommen lassen, damit er eine Bewegung im Bundesrat auf Änderung der Lebensmittelgesetze, als ersten Schritt, auslösen könnte? Man bekäme sicher auch zusätzliche Unterstützung von denjenigen Kreisen, die sich für genveränderte Produkte einsetzen. Und hoffentlich auch eine neue Sicht in der Diskussion um neue KKW und das Endlager.

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