Grenzen des Gesundheitssystems

Erschienen in “Finanz und Wirtschaft” vom 28. März, 2020, S 3.  

Seit Jahren lag die Vermutung nahe, dass das weitgehend verstaatlichte Gesundheitswesen in der Schweiz der erste Teilbereich unseres Umverteilungsstaates sein werde, der an seine Grenzen gerät. Nun braucht es zu dessen Stützung sogar eine Teilmobilmachung jener Milizarmee, die Linkspolitiker seit Jahren gerne abgeschafft hätten. Niemand konnte voraussehen, dass die definitive Herausforderung und mögliche Überforderung unseres Gesundheitswesens von einer Pandemie verursacht werden würde, deren Folgen die ganze Welt erschüttern.

Die politische Gefahrenminderung im Hinblick auf einen Zusammenbruch im Gesundheitswesen wird gegenwärtig zu Lasten einer Gefahrenerhöhung im Bereich des gesamten Finanz- und Wirtschaftssystems betrieben. Das ist keine Lösung, sondern eine Verlagerung der Probleme, die sich allerdings unter den gegebenen Umständen aufgedrängt hat. Die Risiken dieser politischen Gratwanderung sind schwer abschätzbar. Auch Rezessionen können zu Todesfällen führen, die man allerdings nicht in täglich publizierten Statistiken wird nachlesen können. Es ist zu hoffen, dass sich die Folgen für das ebenfalls staatsabhängig gewordene Finanzsystem und die gesamte Realwirtschaft in Grenzen halten werden, und dass es rasch zu einer Erholung und zu einer Rückkehr zur Normalität kommt. Zu hoffen ist auch, dass man im Hinblick auf vergleichbare Herausforderungen weltweit bereit ist, zu forschen und zu lernen.

Vergleiche Markt- Staat nötig

Aufschlussreich dürften dereinst Vergleiche sein, die rückblickend den Gesamterfolg bei der Pandemiebewältigung messen. Waren die Gesundheitssysteme von totalitären Staaten (wie China), oder die von semi-sozialistischen Staaten (wie Italien) erfolgreicher als die Gesundheitsversorgungen in Taiwan, Südkorea, Singapur und in den USA, die wenigstens in ein marktwirtschaftliches Umfeld integriert sind?

Das schweizerische Gesundheitswesen v. a. allem das kantonale Spitalwesen sind mehr staatsbestimmt als marktwirtschaftlich, und ein grosser Teil der freiheitlichen Elemente ist durch die Notmassnahmen ausser Kraft gesetzt worden. Immerhin gibt es in der Schweiz Privatangebote beim Testen, und jene privaten Firmen, die Pandemie-relevante Produkte erforschen und liefern, laufen auf Hochtouren. Möglicherweise bewegt sich jetzt auch etwas im privaten Versicherungsbereich, da ja der Staat auch in Zukunft ein neues Pandemierisiko nicht einfach durch wilde Milliardenversprechen wird abdecken können. Populistisch versprochene Staatshilfen belohnen übrigens einmal mehr jene kleineren und grösseren Betriebe, die ohne jedes «finanzielle Polster» gewirtschaftet haben: Ganz grosse sind wegen ihrer «Systemrelevanz» durch staatliche Finanzspritzen vor dem Konkurs retten.

Eine sehr zeitgerechte aufschlussreiche Analyse hat der amerikanische Publizist Matthew Tanous auf dem Blog des Ludwig von Mises Instituts unter dem Titel «Markets versus Socialism: Why South Korean healthcare ist outperforming Italy with COVID 19» publiziert. Dieser Vergleich der Gesundheitssysteme nach dem Kriterium der Verstaatlichung bzw. der Marktnähe bei der Bewältigung der Pandemie dürfte noch aufschlussreicher sein als der Vergleich der politischen Systeme bei der Ausrufung des Notrechts. Es ist zu hoffen, dass solche Systemvergleiche ohne ideologische Scheuklappen nicht nur von Publizisten, sondern auch von Sozialforschern und Gesundheitsökonomen weltweit durchgeführt und in der Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt werden. Die Forderung «Mehr Staat und mehr Zentralstaat im Gesundheitswesen» taugt nicht als einzige Lehre aus der Krise.

Es ist zu vermuten, dass die Nähe am marktwirtschaftlichen Prinzip von Angebot, Nachfrage, Selbstverantwortung und personenbezogener Versicherung im Bereich der Gesundheit mehr Vorteile als Nachteile hat. Wahrscheinlich führt sie nicht einmal zu einer erhöhten Sterberate bei finanziell Schwächeren, wenn entsprechende soziale Auffangnetze aufgespannt sind. Vor allem bei einer Rückkehr zur gesundheitspolitischen Normalität dürften sich die Vorteile marktwirtschaftlicher Strukturen auch statistisch nachweisen lassen, wenn die richtigen Fragen gestellt und relevante Zahlen ausgewertet werden.  

Es gibt auch unter Befürwortern der Marktwirtschaft das hartnäckig vertretene Vorurteil, das Gesundheitswesen befinde sich insgesamt «Jenseits von Angebot und Nachfrage» und müsse «aus Gerechtigkeitsgründen» mindestens teilweise verstaatlicht sein bzw. werden. Man sollte die Gelegenheit jetzt nutzen, diese Behauptung auf dem Hintergrund der gemachten Erfahrungen objektiv zu überprüfen. Das Gesundheitswesen muss im Interesse aller von einer egalitären umverteilungsfixierten Sozialpolitik abgekoppelt werden. Die künftige Forschung im Sozial- und Gesundheitsbereich darf sich nicht darauf konzentrieren, noch mehr und noch raffiniertere Interventionen herauszutüfteln, welche eine teilweise Weiterführung von zentralistischen staatlichen Notmassnahen rechtfertigen.

Die Nachfrage nach Behandlung und Pflege durch massive Eingriffe in die Freiheit so staffeln, sodass die Tatsache der Rationierung unbegrenzter, subventionierter Angebote sozialverträglicher wird. Genau das geschieht jetzt auch in der Schweiz, und es macht unter den gegebenen Umständen durchaus Sinn. Man rationiert das Angebot nicht zusätzlich, sondern staffelt durch Verbotsmassnahmen die potenzielle Beanspruchung tatsächlich begrenzter Behandlungsangebote. Jedes faktische «Gratisangebot», das man grenzenlos beanspruchen kann, zwingt automatisch zur Rationierung, weil es auch im Gesundheitswesen nie alles für alle (und erst noch gratis) geben kann. Das gilt sowohl im Normalfall als auch im Ausnahmefall. Angesichts dieser Tatsachen, die in den letzten Jahrzehnten im Hinblick auf ein angebliches Gemeinwohl geschaffen worden sind, gab es kaum Alternativen zu den drastischen Massnahmen, deren Hintergrund letztlich die Idee der zwangsweisen Rationierung im Hinblick auf eine stets fragwürdige  Verteilungsgerechtigkeit ist.  

Verantwortung oder Gesinnung

Der ökonomische Preis dieser «Staffelungsmethode» ist allerdings sehr hoch, da es temporär zu einer umfassenden Abhängigkeit der gesamten Wirtschaft vom Staat kommt, aus der ein Wiederausstieg, nicht nur finanziell, höchste und schwer abschätzbare Ansprüche stellt.

Eine verantwortungsethisch fundierte Politik, die auch die längerfristigen tatsächlichen Folgen von Massnahmen im Auge behält, müsste diese den positiven, kurzfristigen Wirkungen gegenüberstellen. Leider dominiert in der Politik die kurzfristige gesinnungsethische Betrachtungsweise. Da es nicht einfach ist, die durch den Corona-Virus nachweisbar verursachten Todesfälle direkt zu ermitteln, wird es noch schwerer sein, die durch die befohlenen Massnahmen indirekt verursachten Todesfälle je statistisch zu erfassen. Man wird die Todesfallkurven länderweise und jahresweise vergleichen und jede Zunahme an Todesfällen dem Virus zuschreiben und nicht den teils tauglichen und teils vielleicht sogar kontraproduktiven Notmassnahmen.

In der Politik will niemand direkt für «zusätzliche, politisch verursachte Todesfälle» verantwortlich sein, aber man nimmt es in Kauf, dass Zwangsmassnahmen im weiteren Sinn auch tödliche Folgen haben können, nur will man weder daran denken noch davon sprechen. Gesinnungsethik ist einmal mehr populärer als Verantwortungsethik, und rigoroses Verbieten ist eben eine sehr attraktive Form lebensrettender Machtausübung. Innerhalb der bestehenden Randbedingungen gab und gibt es kaum Alternativen.

Notfälle sind Testfälle, aber eine befriedigende Versorgung darf nicht ausschliesslich auf den Notstand ausgerichtet sein. Jeder Notstand bedingt Zwangsmassnahmen auf Zeit. Aber je mehr Zwang bereits den Normalfall bestimmt, desto anspruchsvoller wird die Notbremsung, weil sie sich ja nicht auf spontane Prozesse abstützt, sondern auf ein unberechenbares System von Wirkungen und unbeabsichtigten Nebenwirkungen. Und: Zu welcher «Normalität» soll man denn zurückkehren, wenn schon diese Normalität auf nicht nachhaltig praktizierbaren Fehlsteuerungen beruhte?

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