Zurück im neuen Alltag

Ein gnädigerer Blick auf das schweizerische Gesundheitswesen

Ihr Blogger ist am 5. Mai aus der Rehaklinik Baden nach Hause zurückgekehrt. Um den Alltag bewältigen zu können, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, musste in der Rehaklinik speziell das Treppensteigen – vor allem hinunter – fleissig geübt werden. Am operierten Bein Socken anziehen, das erforderte zu Beginn noch eine gewisse Leidensfähigkeit. Wieder zu Hause, musste zuerst das ganze Reha-Programm mit Physiotherapie und Lymph-Massagen organisiert werden. Inzwischen hat sich der neue Alltag soweit eingespielt, dass langsam alles zur Routine wird.

Am 3. April gefahrene Velostrecke bis zum Sturz bei der Zahl 11 (55 km)

Am 13. Mai konnte ich in beim Stützpunkt Schmerikon der Kantonspolizei St.Gallen mein Unfallvelo und den Garmin-Velocomputer abholen. Wie im Bild rechts gezeigt, wurde die gefahrene Strecke aufgezeichnet, sogar bis zur Kantonspolizei in Schmerikon (bei Zahl 12), weil das Garmin-Gerät erst dort ausgeschaltet wurde. Dabei erfuhr ich vom Kantonspolizisten, der am Unfallort war, dass ich nach dem Sturz nicht bewusstlos, sondern ansprechbar war. Die Erinnerung daran ist völlig ausgelöscht.

Wenn es ernst wird, ändert sich die Perspektive

Was zunächst wieder nach einer People-Story über mich selbst aussieht (wie der frühere Bericht aus dem Waid-Spital), ist dieses Mal mit ein paar allgemeinen Einsichten zu unserem Gesundheitswesen garniert. Die direkte Erfahrung als Opfer eines Velosturzes, der nach Meinung der Ärzte für einen kalendarisch so alten Knochen auch tödlich hätte ausgehen können, ist geeignet, die Perspektive auf unser immer teurer werdendes System zu verändern. Ich hatte Gelegenheit zu erfahren, mit welch hoher Effizienz der ganze Ablauf vom Unfall in Eschenbach (SG) bis nach der Operation der Brüche von Oberschenkel und Schlüsselbein im Universitätsspital Zürich vonstatten ging. Und in den beiden Reha-Kliniken Dussnang und Baden fühlte ich mich wie in einem 4-Sterne-Hotel plus medizinische Rundum-Betreuung. Ich weiss nicht, an wie vielen Orten auf der Welt diese Qualität auch noch geboten wird. Ich habe auf jeden Fall heute einen gnädigeren Blick auf unser Gesundheitswesen.

Nichtsdestotrotz: durch die Brille des nüchternen (politischen) Ökonomen betrachtet, sieht unser Gesundheitswesen nicht so gut aus. Nimmt man die von offizieller Seite geschürten Erwartungen als Massstab, die bei Einführung des Krankenversicherungs-Gesetzes KVG Mitte der 1990er-Jahre vor der Volksabstimmung gemacht wurden, dann muss man die überbordende Kostenentwicklung seither als eine der grösseren Fehlleistungen der schweizerischen Politik bezeichnen. So stand es 1994 im Abstimmungsbüchlein des Bundesrats:

Schleichende Verstaatlichung…

Aber so läuft es halt auch in unserer weltmeisterlichen Demokratie: Wenn eine Bundesrätin – in diesem Fall die damalige Gesundheitsministerin Ruth Dreifuss – und ihre Verwaltung eine Abstimmung unbedingt gewinnen wollen, kennt die Schönfärberei mit Phantasiezahlen und -prognosen manchmal keine Grenzen. Dabei verzichteten die damaligen politischen Entscheidungsträger aus Angst vor einer Abstimmungsniederlage ausgerechnet auf ein zentrales wettbewerbliches Systemelement, das Gesundheitsökonomen wärmstens empfohlen hatten, nämlich die Krankenkassen vom Vertragszwang mit allen Anbietern zu befreien. Die Sorge war allerdings berechtigt, denn die Vorlage wurde auch mit Vertragszwang nur knapp angenommen. Bis heute punkten die Anbieter bei den Leuten mit dem oberflächlichen Argument, die Aufhebung des Kontrahierungszwangs wäre gleichbedeutend mit der Abschaffung der freien Arzt- und Spitalwahl.

Die Fehlanreize auf Anbieter- und Nachfrageseite lassen sich unter den Zwängen unserer plebiszitären Demokratie mit fest etablierten referendumsfähigen Sonderinteressen nicht beseitigen. Der Vertragszwang der Krankenkassen ist der Elefant im Raum, der bei Reformdiskussionen bewusst übersehen wird. Mit den üblichen Reformen im Korsett widerstreitender Interessen lässt sich das Kostenwachstum nicht bremsen. Mit jedem weiteren Kostenschock steigt die Neigung in der Bevölkerung, die alten Steckenpferde linker Gesundheitspolitik zu unterstützen. Das Projekt einer nationalen Einheitskrankenkasse erhielt in einer kürzlichen Umfrage bereits eine Mehrheit. Und die Umwandlung in ein System mit einkommensabhängigen Prämien dürfte auch immer populärer werden. Eine nachhaltig kostendämpfende Wirkung ist davon nicht zu erwarten, da die Fehlanreize, die zum Überkonsum von Gesundheitsleistungen führen, nicht beseitigt werden.1

statt Orientierung an Singapur

Reformvorbild könnte das erfolgreiche Modell Singapurs sein. Auf der Webseite der Allianz-Versicherung liest man dazu Folgendes: „Der Standard des Gesundheitssystems in Singapur ist hervorragend. Es ist nicht nur eines der Top-Systeme in Asien, sondern kann auch weltweit zu den führenden Gesundheitsmodellen gezählt werden. Trotzdem sind die medizinischen Dienstleistungen erstaunlich kostengünstig. Singapurs nationales Versicherungssystem ist wohl eines der besten öffentlichen Krankenversicherungssysteme der Welt.“

Der Umbau des dortigen Gesundheitswesens begann in den 1980er-Jahren. Es war die Geburtsstunde von Medisave, dem weltweit ersten System mit Gesundheitssparkonten („Medical Savings Accounts“). Die individuellen Gesundheitssparkonten bilden eine Art von kapitalgedeckter zweiter Säule des Gesundheitswesens. Zwar wollte die Regierung nach der Reform weiterhin eine bezahlbare Gesundheitsversorgung sicherstellen, aber die Idee war, dass die Bevölkerung in Form von Selbstbeteiligungen künftig auch ihren Beitrag zu den Krankheitskosten leistet. Die Reform beruhte auf negativen Beobachtungen von europäischen steuerfinanzierten Gesundheitssystemen mit ihren Fehlanreizen:2

  1. In Ländern mit einem Prepaid-Gesundheitssystem übersteigt die Nachfrage nach medizinischen Leistungen ausnahmslos die finanziellen Möglichkeiten, diese bereitzustellen…“
  2. Eine steuerfinanzierte staatliche Gesundheitsversorgung ist ineffizient, weil diese Form der Sozialfürsorge die direkte Verbindung zwischen dem, was der Arbeitnehmer einzahlt, und dem, was er herausbekommt, aufhebt.
  3. Singapur hat eine Zuzahlungspolitik eingeführt, um die Menschen zu ermutigen, Eigenverantwortung für ihr Wohlergehen zu übernehmen.

Welch ein Kontrast zu hiesigen Reformdiskussionen! In der endlosen und ergebnisarmen schweizerischen Debatte um Reformen im Gesundheitswesen spielen Verhaltensanreize und Selbstverantwortung immer weniger eine Rolle. Dagegen erhalten Verteilungsfragen ein immer grösseres Gewicht, weil im Gerangel der Interessen niemand mehr an wirksame Reformen zur Kostendämpfung glaubt.


  1. Von diesem Überkonsum glaubte ich zunächst, in den beiden geriatrischen Rehakliniken lebendigen Anschauungsunterricht zu erhalten, wenn auch nicht statistisch erhärtet. Viele der dortigen Insassen, meistens mit Übergewicht, hatten neue Knie- oder Hüftgelenke erhalten. Man hört und liest immer wieder, dass bei diesen lukrativen, aber teilweise unwirksamen Operationen die Fallzahlen stetig steigen. Schaut man dies aber im Implantatregister SIRIS statistisch genauer an, sind die Wachstumsraten unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung nicht alarmierend. Immerhin steht dort aber auch, die Knieprothesen-Revisionsrate sei in der Schweiz höher als im internationalen Vergleich. Daraus könnte man schliessen, dass sich der Überkonsum in der Schweiz auf hohem Niveau stabilisiert hat.
  2. Aus Verena Finkenstädt (2013): „Das Gesundheitssystem in Singapur“, WIP-Diskussionspapier 03/13 Juli 2013.

(Dieser Beitrag wurde am 15. Mai 2025 im Blog des Autors “Voll daneben” publiziert.)

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6 thoughts on “Zurück im neuen Alltag”

  1. Der Verzicht auf Vertragszwang der Versicherungen, setzt voraus, dass diese im Interesse der Patienten handeln, wenn sie Ärzte, Krankenhäuser und andere medizinische Dienste auswählen. Leider ist das nicht so selbstverständlich…
    Nach welchen Kriterien würde diese Auswahl erfolgen? Wäre der Beruf des Arztes einfacher, wenn er für jeden seiner Patienten unterschiedliche Bedingungen erfüllen müsste, je nach den Verträgen, die er mit den verschiedenen Versicherungen abgeschlossen hat, die ihn zertifiziert haben? Ist das nicht ein Irrweg, der die Entscheidungsgewalt der Versicherungen, die bereits heute missbräuchlich ist, noch verstärkt?
    Eine „echte“ Liberalisierung würde bedeuten, dass die tatsächlichen Akteure im Gesundheitswesen miteinander konkurrieren, ohne dass die Sparkasse, die die Versicherung darstellt, anders als durch ihre Beziehung zu ihren Kunden, den Versicherten, eingreift. Die Herausforderung wäre dann, herauszufinden, wer ein guter Arzt ist, welche Leistungen ein Krankenhaus bietet, ob es sich um ein Low-Cost- oder ein Premium-Krankenhaus handelt usw. Dies setzt Werbung, Wettbewerbsfähigkeit und auch die Verpflichtung zu offener Information voraus. Das Gesundheitssparkontenmodell Singapurs wäre hierfür gut geeignet.

  2. Man kann hier auf das Buch “Genesung durch Wettbewerb” der Carnot-Cournot-Autoren Bernd Schips und Silvio Borner verweisen. Auch dort wird als zentraler Reformschritt die Aufhebung des Vertragszwangs der Krankenkassen gefordert, weil nur dadurch für die Versicherer Anreize bestehen, unterschiedliche Produkte anzubieten.

  3. Im Abstimmungsbüchlein, wie im Beitrag zitiert, gingen die Erschaffer des KVG sozusagen davon aus, die Krankenversicherer und die Leistungserbringer würden sich freiwillig und mit Freuden dem Wettbewerb stellen. Aber wie Carl Christian von Weizsäcker ausführte, ist Wettbewerb ein System des Zwangs für die Anbieter und ein solches der Freiheit für die Kunden. Aus diesem Grund versuchen die Anbieter stets, den Spiess umzudrehen, ein Systems der Freiheit für sie selber und ein solches des Zwangs der Kunden herbeizuführen (regulatory capture) und also den Wettbewerb zu beseitigen. Je mehr Regulierungen wir in einem Markt haben, desto besser gelingt dies den etablierten Anbietern. Zu Lasten der Newcomer, der Kunden und der Allgemeinheit.

    In diesem Sinne war das KVG ein Rohrkrepierer. Es war vorauszusehen.

    1. Nebenkriegsschauplatz: Ein Markt, der von einem oder mehreren geschlossenen Kreisen von Anbietern und Zahlstellen (mit oder ohne Vertragszwang) gebildet wird, ist nicht im Interesse des Endkunden, also des Patienten, seiner Gesundheit und seines Portemonnaie.
      Wann werden endlich Werbekampagnen für Ärzte, egal ob einzeln oder in Gruppen, mit technischen und wirtschaftlichen Argumenten (Preise, Wartezeiten, Qualität, Behandlungsmethoden, usw.) erlaubt? Gleiche Frage für Kliniken, Physiotherapeuten usw (das machen bereits Zahnarztpraxen im benachbarten Deutschland in den Basler Trams).
      Wenn der Patient zunächst mit seinen Ersparnissen (Singapur Modell) zum Arzt gehen wird, wird er sich über eine vielfältigere Auswahl an Konkurrenzanbietern freuen.

      1. Ich beschreibe eben gerade nicht einen Nebenschauplatz, sondern die politökonomische Ursache (regulatory capture), dass es immer wieder zu solchen antikompetitiven Regulierungen kommt. Wenn man die Anbieter lässt, dann machen sie nicht Wettbewerb, sondern sie verhindern ihn.

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