Corona und die Generationensolidarität

Wir sollten nicht zulassen, dass die Jüngeren mehr unter den Folgen der Schutzmassnahmen wegen Corona zu leiden haben, als wir Älteren

Auch wenn bei Corona vieles ungewiss und widersprüchlich bleibt, eines ist klar: die Todesopfer der Pandemie sind praktisch ausschliesslich sehr alte Menschen mit diversen Vorerkrankungen. Am klarsten sieht man das in der Todesfallstatistik pro Woche nach Altersklassen. Dort lassen sich die aktuellen Zahlen mit denjenigen der vergangenen Jahre seit 2015 vergleichen. Und weil hier jeder Tod unabhängig von seiner Ursache gezählt wird, weicht man der Ungewissheit aus, ob jemand an oder mit Corona verstorben ist. Bis Woche 51 (20. Dezember) zeigen sich in diesem Jahr deutlich zwei Wellen der Übersterblichkeit (mehr Tote als in Vergleichswochen früherer Jahre), eine erste von März bis Mai und eine zweite ab Mitte Oktober. Dabei ist die erste in ihrem Ausmass und Verlauf nicht von den Grippewellen 2015 sowie 2016/17 zu unterscheiden.

Die zweite jedoch – die noch immer andauert – übertrifft die erste mit deutlich mehr Todesfällen und länger dauernden Spitzenwerten um bald das Dreifache. Das ist eine erschreckend neue Entwicklung. Die Aufschlüsselung nach Altersklassen zeigt jedoch Überraschendes: Bei den Unter-65-Jährigen verschwindet diese Übersterblichkeit vollständig! Dies ist ein entscheidender Punkt: Offenbar ist die gesamte werktätige Bevölkerung bezüglich Gesamtzahl von Todesfällen in keiner Weise von der Pandemie beeinflusst. Auch wenn es seltene Corona-Todesfälle unter 65 Jahren gibt, so werden diese doch kompensiert durch vermiedene Fälle anderer Sterbensursachen. In der Kategorie der 40-64-Jährigen ist der Mittelwert pro Woche sogar der tiefste seit 2015 (Link zu genauen Datengrafiken).

Dazu kommt, dass mit dem alleinigen Blick auf die Todesfallstatistik dem noch wichtigeren Kriterium der «verlorenen Lebenszeit» nicht Rechnung getragen wird. Damit ist die Lebenszeit gemeint, die ein Mensch im Durchschnitt nach seinem Tod noch hätte erwarten können. Der Todesfall eines jüngeren Menschen bekommt damit mehr Gewicht, als derjenige eines bereits sehr alten, denn das Entwicklungspotential, das diesem jüngeren Leben noch bevorgestanden hätte, ist nicht vergleichbar mit demjenigen des bereits am Lebensende Stehenden. Aus dieser Optik stellt sich eine äusserst heikle Frage, der wir aber nicht aus dem Weg gehen sollten: Lassen sich einschneidende Massnahmen rechtfertigen, deren Preis vor allem die werktätigen Generationen bezahlen, wenn damit nur wenig verlorene Lebenszeit verhindert werden kann? Oder: Warum sollen ausgerechnet diejenigen die Hauptlast tragen, die am wenigsten gefährdet sind?

In diesem schwierigen Dilemma gibt es sicher keinen einfachen und eindeutigen Lösungsweg. Aber für den Kitt unserer Gesellschaft ist es wichtig, dass wir über das notwendige Abwägen zwischen verschiedenen Standpunkten offen und ohne Tabus diskutieren. Denn es sind die Kinder und Jugendlichen, die wegen Corona verpasste Bildungs- und Berufsmöglichkeiten haben, es sind die Werktätigen, deren Geschäfte kaputt und deren Jobs verloren gehen, und es sind alle Unter-65-Jährigen, die bei ihrer Altersvorsorge Abstriche in Kauf und für die nun aufgehäuften Schulden aufkommen müssen. Vor allem bei der Altersversorgung ist das besonders akut, denn schon heute geniessen wir Pensionierten das Privileg eines Rentenniveaus, das durch die Erträge der arbeitenden Bevölkerung nicht mehr vollständig gedeckt ist, und dies wird in den nächsten Jahren noch zunehmen. Ich wünsche mir, dass wir in diesem Bereich endlich eine tragfähige Lösung zustande bringen, sodass die bereits bestehende Generationenungleichheit durch Corona nicht noch weiter verschärft wird.

Dieser Text ist in der Aargauer Lokalzeitung „Die Botschaft“ unter der Kolumne „Was mich beschäftigt“ am 11. Januar 2021 und auf schlumpf-argumente.ch erschienen.

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7 thoughts on “Corona und die Generationensolidarität”

  1. Die nachfolgende Polemik möchte die Leserschaft zur Gegenrede provozieren:
    Die werktätigen Generationen haben von denjenigen, deren Restlebenszeit nur wenig verkürzt wird, schon heute eine Infrastruktur geerbt, welche ihnen einen geradezu spektakulären Zuwachs ihrer Arbeitsproduktivität ermöglicht, so dass sich diese Generation trotz der einschneidenden Massnahmen zu ihrem Ungunsten eines Lebensstandards erfreut, von welchem wir (ich bin 82 Jahre alt) nicht einmal geträumt haben: Die Restlebenszeit, welche wir heutzutage konsumieren können, schulden auch wir unseren Vorfahren, welche beispielsweise das medizinische Können in ihrer Generation derart vorangetrieben haben, dass unsere Lebenserwartung spektakulär gestiegen ist. Auch die inzwischen nicht mehr nachhaltige Ausbreitung des homo sapiens verdanken wir dem Umstand, dass jede Generation vom Bildungs- und Wirtschaftswachstum der Vorfahren mehr profitiert hat als sie beispielsweise «dank» Corona verpasst hat:
    Die wegen Corona verpasste Bildungs- und Berufsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen sind, gemessen am durch unsere Vorfahren und uns erarbeiteten Bildungswachstum, vernachlässigbar, die Geschäfte und Jobs , welche zur Verlängerung unserer Restlebenszeit verloren gehen, verdanken die Werktätigen dem durch unsere Vorfahren und uns erarbeiteten Wirtschaftswachstum. Weil man Schulden nicht vererben kann, müssen die Unter-65-Jährigen auch nicht für unsere (inexistenten) Schulden aufkommen, die Abstriche, welche sie bei ihrer Altersvorsorge in Kauf nehmen müssen, sind bereits heute durch die dank Währungs- und Finanzpolitik verursachte Umverteilung von Vermögen zu Lasten der Sparer überkompensiert: Vor allem bei der Altersversorgung trifft es nicht zu, dass das Rentenniveau, gemessen an den Beiträgen unserer Generation, zu hoch ist:
    Die ökonomisch absurden Negativzinsen schmälern den Ertrag der Pensionskassen zu Lasten derjenigen, deren Altersvorsorge durch Prämienzahlung angespart wurde, die durch die Währungspolitik herbeimanipulierte hohe Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung benachteiligt unsere Generation ebenfalls, weil wir die Ersparnisse, von welchen wir heute leben, bei einem dank tiefem Lebenskostenindex tieferen Lohnniveau erwirtschaften mussten. Aus all’ diesen Gründen sollen ausgerechnet diejenigen die Hauptlast tragen, die am wenigsten gefährdet sind.
    Was mich am meisten stört ist jedoch die Tatsache, dass die am wenigsten gefährdeten Zeitgenossen nicht einmal diejenigen Massnahmen zu unserem Schutz umsetzen, welche für sie keine oder nur minime «Lasten» bedeuten: Beim wöchentlichen Einkauf meiner Lebensmittel muss ich den Mindestabstand gegenüber der jüngeren Kundschaft häufig mit dem Einkaufswagen verteidigen, im Altersheim wurde meine Ehefrau zur Weihnachtszeit mit Corona angesteckt, weil man dem Pflegepersonal eine freiwillige Isolation in der Freizeit nicht zumuten kann.

  2. Ich finde den Beitrag von Martin Schlumpf goldrichtig. Aber ich verstehe sie ja auch – bis zu einem gewissen Mass, Franz-J. Schulte-Wermeling.

    “…die Geschäfte und Jobs … verdanken die Werktätigen dem durch unsere Vorfahren und uns erarbeiteten Wirtschaftswachstum…”

    Ähnliches, aber milderes Sermon von meinen Eltern, damals, als ich nichts anderes als Gitarre und Musik im Atlantis (Basel, no alcohol, Coca zu 80 Rappen) im Kopf hatte.

    Trotzdem, etwas aufpassen uns heute mit dem ‘erarbeiteten Wirtschaftswachstum’ brüsten. Ja, sicher, auch. Aber: Nachdem vor nicht so langer Zeit gewisse Wir’s und Vorfahren alles kaputt geschlagen haben, immense Schäden angerichtet, physisch, materiell, psychisch, dann wieder aufbauen mussten, Nachfrage, Wirtschaftswunder, Wohlstand… alles ‘dank’ den Trümmerhaufen in Europa.

  3. Lieber Herr Plüss,
    Die Argumente, derentwegen Sie mich nur “bis zu einem gewissen Mass” verstehen, gehören ganz offensichtlich nicht zur Sache, ,sondern zielen auf mich und meine Vorfahren. Ich kann Ihnen versichern, dass weder mein Grossvater noch mein Vater noch ich jemals in ihrem Leben eine Militäruniform getragen haben. (Und Adolf Hitler war ja ein Österreicher..) Ich weise den Vorwurf der Kollektivschuld am Kaputtschlagen, den sie allzu deutlich erheben, also energisch zurück. Als ich 1958 in die Schweiz kam, nannte man meine von Ihnen als “Wirs” bezeichneten Landsleute noch “Sauschwaben”. Deshalb bin ich diesbezüglich inzwischen abgehärtet und tröste mich im Nachhinein mit der Tatsache, dass die meisten Schweizer mittlerweile an einem Inferioritätskomplex leiden, weil sie wissen, dass ihr Wohlstand nicht durch ihrem Fleiss, sondern durch das Bankgeheimnis entstanden ist.. Als Kind habe ich noch aus den Trümmern gerettete Backsteine geklopft, meine damals versäumte Schulzeit hatte ich offenbar wieder aufgeholt, als ich 1962 im Alter von 23 Jahren meine Diplomprüfung als Maschineningenieur an der ETH bestanden habe.
    Meine damals knapp bemessene Freizeit habe ich nicht Coca Cola nippend in irgendwelchen angesagten Spelunken vertrödelt, sondern beim (Amateur-)Leistungssport ausgekostet: Ich wurde damals im Rudern viermal Schweizer Meister, viermal Internationaler Deutscher Hochschulmeister und einmal sogar Deutscher Vizemeister im Einer. Nur der damals amtierende Weltmeister hat mich geschlagen. Ich bitte um Nachsicht dafür, dass mir ob Ihrer dümmlichen Polemik der Kragen geplatzt ist.

  4. Hoppla, da ist jemand schwer betupft – nur weil ich Tatsachen erwähne, kommt’s wie ein Schwall, unbegreiflich Unzusammenhängendes, und sofort mit Kollektivschuld. Was soll das? Da hat sich anscheinend einiges aufgestaut – aber lassen wir diese “Analyse”. Trotzdem, dass Sie sich unbegreiflicherweise persönlich angegriffen fühlen, von einem 40 Jahre beruflichen Auslandsschweizer – Deutsche Grossmutter, in Deutschland geborene Frau -, der Sie nicht kennt, der nichts als eine simple Tatsache erwähnt, das bedauere ich sehr. Das war nicht meine Absicht.

  5. Lieber Herr Plüss,
    In ihrem ersten Kommentar schrieben Sie:
    “Nachdem vor nicht so langer Zeit gewisse Wir’s und Vorfahren alles kaputt geschlagen haben, immense Schäden angerichtet, physisch, materiell, psychisch, dann wieder aufbauen mussten, Nachfrage, Wirtschaftswunder, Wohlstand… alles ‚dank‘ den Trümmerhaufen in Europa.”
    Hierzu erwiderte ich:
    “Die Argumente, derentwegen Sie mich nur „bis zu einem gewissen Mass“ verstehen, gehören ganz offensichtlich nicht zur Sache, sondern zielen auf mich und meine Vorfahren.”
    In Ihrem zweiten Kommentar schrieben Sie dazu:
    “..nur weil ich Tatsachen erwähne, kommt’s wie ein Schwall, unbegreiflich Unzusammenhängendes, und sofort mit Kollektivschuld. Was soll das? Da hat sich anscheinend einiges aufgestaut – aber lassen wir diese „Analyse“. Trotzdem, dass Sie sich unbegreiflicherweise persönlich angegriffen fühlen, von einem 40 Jahre beruflichen Auslandsschweizer – Deutsche Grossmutter, in Deutschland geborene Frau -, der Sie nicht kennt, der nichts als eine simple Tatsache erwähnt, das bedauere ich sehr. Das war nicht meine Absicht.”
    Meine Fragen an Sie lauten nun:
    Begreifen Sie den Zusammenhang tatsächlich nicht? Fühle ich mich tatsächlich “unbegreiflicherweise” persönlich angegriffen? Sind Sie eigentlich stolz auf Ihre arische Grossmutter? Haben Sie wirklich nichts als eine simple Tatsache erwähnt? Wissen Sie eigentlich, was Sie tun?
    Als Randbemerkung möchte ich noch erwähnen, dass ich seit mehr als 50 Jahren mit einer an 3 Orten heimatberechtigten Schweizerin verheiratet bin, welche damals, als wir heirateten, nicht einmal stimmberechtigt war.

  6. Der Artikel von Schlumpf wirft berechtigte und pertinente Fragen auf.
    Dem im Lead genannten Ziel „Wir sollten nicht zulassen, dass die Jüngeren mehr unter den Folgen der Schutzmassnahmen wegen Corona zu leiden haben, als wir Älteren“ kann ich nur zustimmern. Ebenso der Forderung, auch den „Kosten- und Ertragswert“ von Covid-Toten zu berücksichtigen (hierüber gibt es übrigens bereits eine umfassende Literatur, vor allem bezogen auf Verkehrsunfälle). Damit fangen aber die Probleme erst an:
    Selbst wenn wir ältern Mitbürger auf eine einsame Insel entsorgt würden, würde das Leben für die Jüngeren nicht weiter gehen wie gehabt. Hierzu keine Behauptungen, sondern ein paar Fragen:
    Unser Wohlstand und unsere Vollbeschäftigung hängen weitgehend vom Export ab. Wenn die Wirtschaft im Ausland durch Covid beeinträchtigt wird, spüren wir das durch halbleere Auftragsbücher und wegfallende Arbeitsplätze. Wie gross dieser Effekt und die dadurch hervorgerufenen Multiplikatorwirkungen im Inland sein werden, weiss kaum jemand vorherzusagen.
    Viele in- und ausländischen Studien (Charité Berlin, etc.) deuten darauf hin, dass mindestens 5 Prozent der Corona-Toten jünger als 70 Jahre sind. Das wäre statistisch gesehen nicht beunruhigend, wenn nicht davon ausgegangen werden müsste, dass sich die Todesfälle aufgrund des mutierten Virus mittelfristig jede Woche verdoppeln könnten. Trifft das zu, würde die Lage nach rund 2 Monaten auch ohne Senioren höchst dramatisch. Es ginge also auch dann nicht ohne Eingriffe in die persönliche Freiheit. Welcher Art die sein müssten, weiss niemand.
    Mit andern Worten: der status quo ante taugt nichts als Vergleichsbasis.
    Ein grosser Teil der Senioren sind heute in dem Sinne Schmarotzer, als sie ungewollt AHV und Pensionskassen plündern. Vielleicht müsste man das einmal genauer anschauen. Dringlicher Handlungsbedarf zugunsten der Jungen besteht aber vor allem bei Umwandlungssatz und Pensionierungsalter. Senioren sind aber in dem Sinne nicht Schmarotzer, als sie in grossem Ausmass unbezahlte Freiwilligenarbeit leisten (dabei meine ich nicht von niemandem gelesene Beiträge in Journal 24, Seniorweb, CC-Blog u. dgl.). Das müsste man bei einer Gesamtrechnung auch berücksichtigen.

  7. Lieber Herr Vogel,
    Falls es zuträfe, dass die Jüngeren mehr unter den Corona-Schutzmassnahmen zu leiden haben als «Wir» Älteren, würde sich daran auch dann nichts ändern, wenn »Wir» auf eine einsame Insel entsorgt würden. Die Behauptung, dass die Jüngeren durch Corona mehr als «Wir» Älteren zu leiden haben, lässt sich unter Berufung auf dieses Szenario also weder entkräften noch beweisen.
    Weiter schreiben Sie: «Hierzu keine Behauptungen, sondern ein paar Fragen:»
    Wer dann weiterliest, findet dann das genaue Gegenteil: Sie stellen weiterhin lediglich (unbeweisbare) Behauptungen auf, es folgt aber keine einzige Frage! Entweder sind Sie dialektisch zu wenig geschult oder die Schärfe Ihres Verstandes hat im Laufe der Jahre schon arg gelitten, wie dies bei «UNS» leider unverschuldet häufig vorkommt.
    Ihre Behauptung, dass der Status quo ante nichts als Vergleichsbasis taugt, ist offensichtlich unsinnig:
    Die These, dass die Jüngeren unter der Coronakrise mehr (komparativ!) leiden als «WIR», setzt zwingend die Zustände vor der Coronakrise als Vergleichsbasis voraus. Ob bei Ihren jeweiligen Blicken in die Zukunft die ceteris paribus-Voraussetzung erfüllt ist, scheint Sie nicht zu interessieren, schon deshalb ist Ihre Behauptung, dass es nicht ohne Eingriffe in die persönliche Freiheit gehe, sine fundamento in re, auch wenn ein Blick nach China Ihre Behauptung zu bestätigen scheint. Wissen Sie übrigens, dass die Freiheit des Einzelnen durch die Freiheit der Anderen begrenzt wird?
    Der Mensch ist ein ens soziale. Trösten Sie sich also mit Aristoteles, welcher einst gesagt haben soll: «Der Gebildete treibt die Genauigkeit nicht weiter als es der Natur der Sache entspricht.»

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