Plädoyer für eine Neufassung von Art. 73 BV (Nachhaltigkeit)

Arne Tvedt

Gastbeitrag von Dr. oec. Arne Tvedt, Unternehmensberater

Am 18. Juni haben wir über das Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energie-sicherheit (KlG) abgestimmt.

Mit der Annahme von besagtem Gesetz haben wir en Detail einen Fahrplan für die Reduktion der Treibhausgasemissionen bis 2050 festgelegt, der, um es diplomatisch auszudrücken, höchst ambitioniert ist.

Konkret sollen diese

im Sektor Gebäudeim Sektor Verkehrund im Sektor Industrie
bis 2040 um 82%
bis 2050 um 100%
bis 2040 um 57%
bis 2050 um 100%
bis 2040 um 50%
bis 2050 um 90%

gegenüber dem Stand von 1990 zurückgehen, und dies trotz anhaltendem Bevölkerungswachstum und (hoffentlich) weiter anhaltendem Wirtschaftswachstum.

Während all dies auf Stufe Gesetz präzise festgeschrieben wird und neue Wortschöpfungen wie die «Negativemissionstechnologien» Eingang in die Gesetzgebung finden, bleibt die verfassungsrechtliche Grundlage für all dies erstaunlich vage und unverbindlich.

So besagt Art. 73 BV (Nachhaltigkeit) in der aktuellen Formulierung lediglich:

«Bund und Kantone streben ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Benutzung durch den Menschen anderseits an.»

Wäre es da nicht sinnvoller eine griffige und verbindliche verfassungsrechtliche Grundlage zu schaffen und darauf aufbauend Gesetze zu erlassen, die uns diesem Ziel näherbringen?

Die Umsetzung der hierfür erforderlichen Massnahmen könnte so besser etappiert und an den aktuell erreichten Stand der Technik angepasst werden. Der im KIG festgeschriebene Fahrplan hingegen könnte sich dereinst als nicht durchführbar erweisen und die Räte wie auch den Souverän vor ein Dilemma stellen.

Vor diesem Hintergrund plädiere ich für eine Neufassung von Art. 73 BV und mehr Pragmatik bei der Bewältigung von Umweltproblemen, ein Ansatz, der in der Vergangenheit gut funktioniert hat. 

Als Inspirationsquelle für eine Neufassung von Art. 73 BV kann uns § 112 im norwegischen Grundgesetz (Verfassung) dienen, hier in deutscher Übersetzung mit Anpassungen an die hiesige Sprachregelung (der norwegische Originaltext ist am Schluss angefügt).

Art. 73 BV (Vorschlag für eine Neufassung)

  1. Jeder Mensch hat das Recht auf eine gesunde Umwelt und auf eine Natur, in der Produktionskapazität und Vielfalt erhalten bleiben. Natürliche Ressourcen sollen auf der Grundlage einer langfristigen und gesamtheitlichen Betrachtung bewirtschaftet werden, die dieses Recht auch für die Nachwelt sichert.
  2. Die Bürger haben ein Recht auf Kenntnis über den Zustand der natürlichen Umwelt und über die Auswirkungen geplanter und durchgeführter Eingriffe in die Natur, damit sie das Recht, das sie gemäss Ziffer 1 haben, schützen können.
  3. Der Bund ergreift Massnahmen, die die Einhaltung dieser Grundsätze sicherstellen.

Wenn die Zielrichtung in der Verfassung vorgegeben ist erübrigt sich die Notwendigkeit verbindliche Zielwerte für einen Zeitraum von 27 Jahre festzulegen und besagte Zielwerte können nach Massgabe des bereits Erreichten und des technisch Machbaren jeweils für einen überschaubaren Zeitraum definiert werden.

Art. 57 BV (Sicherheit) und Art. 58 BV (Armee) zeigen wie stark ein entsprechend klar formulierter Verfassungsartikel die Politik bestimmen kann. Das Armeebudget wird nicht ernsthaft in Frage gestellt und Rüstungsvorhaben in aller Regel problemlos durchgewunken. Als Konter gegen unliebsame Kritiker genügt in aller Regel ein Verweis auf den Verfassungsauftrag (Art. 57 BV).

Als Beispiel aus dem Umweltbereich könnte man auch Art. 77 BV (Wald) nennen, der den Bestand des Schweizer Waldes gewährleistet.


§ 112

Enhver har rett til et miljø som sikrer helsen, og til en natur der produksjonsevne og mangfold bevares. Naturens ressurser skal disponeres ut fra en langsiktig og allsidig betraktning som ivaretar denne rett også for etterslekten.

Borgerne har rett til kunnskap om naturmiljøets tilstand og om virkningene av planlagte og iverksatte inngrep i naturen, slik at de kan ivareta den rett de har etter foregående ledd.

Statens myndigheter skal iverksette tiltak som gjennomfører disse grunnsetninger.

(zitiert nach lovdata.no)

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9 thoughts on “Plädoyer für eine Neufassung von Art. 73 BV (Nachhaltigkeit)”

  1. Mit Absatz 2 dieses guten Vorschlags – “Die Bürger haben ein Recht auf Kenntnis über den Zustand der natürlichen Umwelt und über die Auswirkungen geplanter und durchgeführter Eingriffe in die Natur, damit sie das Recht, das sie gemäss Ziffer 1 haben, schützen können.” – wären die aktuellen, völlig unreflektierten “Offensiven” des Parlaments in Wind und Solar klar unzulässig. Vermutlich wären auch das KlG und sogar die gesamte Energiepolitik im Sinne dieser unsäglichen Energie”strategie” 2050+ unzulässig.

    Selbst mit der heute gültigen Verfassung dürften die Parlamentarier und Parlamentarierinnen z.B. mit den 60% Kostenbeiträgen und der Schnellzugsbewilligung der alpinen Solaranlagen ihren Eid auf die Verfassung brechen. Niemand weiss, was diese Anlagen energetisch bringen (wenn sie netto überhaupt etwas bringen). Niemand hat auch nur einen Schimmer von ihrer CO2-Bilanz (vermutlich negativ). Und die Eingriffe in die Natur sind unerträglich.

    Zum Glück werden diese Planungen jetzt quasi von sich aus immer kleiner und kleiner… vermutlich bleibt alles ein Sturm im Wasserglas. Doch so arbeitet zurzeit unser Parlament in Energie- und Umweltfragen. Die Klimaerwärmung scheint die Hirnzellen der Politiker zu überhitzen… sonst ist sie ja noch kaum spürbar.

    1. Die Wege zur Hölle sind mit guten Absichten gepflastert, oder mit Absichten, die man für gut hält oder für gut halten will, die sich aber als bösartig erweisen.
      Die Grundrechte sind Gegenstand von Kapitel 1 der Bundesverfassung, und Kapitel 2 betrifft die Staatsangehörigkeit, die Bürgerrechte und die politischen Rechte. Der Rest der Verfassung schreibt vor, wie diese Rechte zu regeln sind.
      Es fällt auf, dass keine weiteren Rechte gewährt werden, die nicht vom Bund garantiert werden können.
      In diesem Vorschlag zur Revision von Artikel 73 würde allen Menschen (nicht nur den in der Schweiz ansässigen) ein Recht auf eine gesunde Umwelt und eine produktive und vielfältige Natur eingeräumt werden. Das setzt voraus, dass man weiss, worum es geht, und dass Personen, denen solche Rechte vorenthalten werden, vom Garantiegeber Wiedergutmachung verlangen können. Das ist offensichtlich nicht möglich, weil unsere helvetische Eidgenossenschaft auch die Umwelt und die Natur nicht beherrschen kann.
      Mit der Annahme des Klimagesetzes (und glücklicherweise nicht eines Verfassungsartikels), das den Begriff “Klimaschutz” einführt, hat sich das Schweizer Volk bereits eine Grundlage geschaffen, die so lange unverständlich bleibt, wie dieses Gesetz in Kraft bleibt. Die Dummheit auf eine neue Stufe zu heben, indem Unmöglichkeiten in die Verfassung geschrieben werden, ist sicherlich nicht empfehlenswert, es sei denn, man will ewige Querulanz von allen Seiten fördern.
      Und ja, die Ziele zur Reduzierung der Emissionen sind sehr präzise und innerhalb des vorgegebenen Zeitrahmens nicht erreichbar. Das wird erst zu gegebener Zeit erkannt. Dann wird man sich über diejenigen, die dafür gestimmt haben, lustig machen dürfen (kein Grundrecht).

      1. Ich gebe Ihnen Recht. Ich bin auch gegen den Vorschlag von Herrn Tvedt. Was in der Verfassung steht, bekommt man schwer, praktisch nie wieder weg. Art. 73 sollte so bleiben , wie er ist. Je unverbindlicher, desto besser. Das neue Klimaschutz Gesetz wird nie umgesetzt, weil es nicht geht. Sie haben Recht Herr Rougemont. Wäre nicht das erste Mal. Das Volk stimmt nicht immer intelligent ab. Dann muss es von der Realität korrigiert werden.

  2. P.S. beim Zitat der norwegischen Vorlage (Paragraph 112 vom norwegischen Grundgesetz) fehlt das erste Wort Enhver (ein jeder, also alle) … im Kontext von Jeder hat Anrecht auf.

    Dieses Anrecht ist im Sinne einer Selbstverständlichkeit zu sehen, d.h. der Staat verpflichtet sich (in seinem Hoheitsbereich) alles Nötige zu unternehmen, dass diese Selbstverständlichkeit auch für künftige Generationen erhalten bleibt. So ziemlich jede erdenkliche Alternative hierzu erscheint mir nicht erstrebenswert. Aus dieser Formulierung einen Entschädigungsanspruch an den Staat abzuleiten (siehe Kommentar v. M. de Rougemont) erscheint mir reichlich verwegen und selbst in diesem Fall wäre es wahrscheinlich zielführender, solche Forderungen an den norwegischen Staat zu richten, in dessen Staatsfonds mittlerweile mehr als 1 Billion SFr. bereitliegt. Bis anhin hat dies noch niemand versucht.

  3. Interessanter Vorschlag, aber:
    Ich halte unsern BVArt. 73 für völlig ausreichend. Dieser Vorschlag führt Neue Grundrechte resp. Menschenrechte ein. Das ist unnötig. Und impliziert eine Neuerung, die sich auch sonst in der BV auswirken kann.

    Als wichtigster Aspekt verstehe ich nicht, weshalb man die Bundesverfassung ändern soll, weil ein schlechtes, undurchführbares Gesetz (vermutlich vorallem mittels der grünroten Stadtbevölkerung) erreicht wurde. Es war jedem, der 2+2 zusammenzählen konnte, klar, dass die Etappen und das Klimaziel 2050 NettoNull nicht erreichbar sind. Das muss man nicht einmal “diplomatisch” formulieren.

    Alles “elekrisch statt fossil” wird damit nicht umzusetzen sein: Siehe nur das hausgemachte momentan unlösbare Desaster der Energiestrategie 2050″+” und alles was sich dabei in Sachen Erweiterung der E-Produktionskapazität sowie Netzausbau und Speichernotwendigkeit vor unseren Augen abspielt Und das bei einer 10 Mio Schweiz. No chance.

    Auch beim IPCC selbst beginnt man bereits an der Erfüllbarkeit des 2°C -Ziels bis 2050 für die allermeisten “Paris-willigen” Länder zu zweifeln. Und die Schweiz steht CO2-mässig im Vergleich ja noch recht gut da.
    Weiter:
    Ein solcher Vorschlag ist mit der CH-Struktur nicht vereinbar. Bund UND Kanton sind föderal gleich in der Pflicht entspr. Art. 73. Also Punkt 3 müsste schon mal geändert werden.
    Pkt.1 widerspricht sich mit Pkt.2, da Pkt. 1 von “Jedem Mensch” spricht, bei Pkt.2 jedoch vom Bürger (CH) gesprochen wird. (Schnittmengenfehler).
    Ich sehe bisher noch keine wirklichen Vorteile mit diesem Vorschlag.

  4. Bitte nicht unnötigerweise an der BV rütteln. Und schon gar nicht so wie vorgeschlagen. Jede allgemeine Formulierung wie im norwegischen Vorschlag, öffnet den Fächer für neue Interpretationen.
    a) “Jeder Mensch hat das Recht auf eine gesunde Umwelt”: Dann können wir sämtliche Energiequellen vergessen:
    – Kernenergie: Wenn ein KKW in die Luft geht, dann haben wir ein Tschernobyl mit all den Krebstoten und -Kranken und müssen unser Land verlassen. Bitte redet mit den Leuten auf der Strasse!
    – Kohle: Alle die Lungenerkrankungen
    – Jede Energie hat Vor- und Nachteile. Aber ohne genügend Energie läuft nichts.
    b) “Die Bürger haben ein Recht auf Kenntnis über den Zustand der natürlichen Umwelt”: Die einen sagen, lest die IPCC Reports. Die andern sagen Klimaskeptik ist am Platz. Der Bund und die ETH werden den ‘wahren’ Zustand der Natur von Staates wegen definieren und diktieren. Der Glaube an Behörden ist nie grösser als in unsicheren Zeiten.
    c) “Der Bund ergreift Massnahmen, die die Einhaltung dieser Grundsätze sicherstellen”. Der Bund und der Mann von der Strasse werden sagen: Genau das machen wir ja schon und sind auf dem besten Weg.
    d) “Natürliche Ressourcen sollen auf der Grundlage einer langfristigen und gesamtheitlichen Betrachtung bewirtschaftet werden”: Das ist der Beweis für c) Wir benützen Sonne, Wind, Wasser und Elektroautos; nach dem Vorbild von Norwegen.

    1. Ja, die Norweger leisten sich diesen Luxus aus ihren enormen Einnahmen aus der Fossilenförderung – die sie im Hinblick auf eventuell später härtere Regulierungen und höhere Hindernisse jetzt sogar beschleunigt fördern. Sie tragen zum grünen Paradox bei, das Hans-Werner Sinn immer wieder betont.

  5. Der Verfassungsartikel per se ist kein Luxus, er besteht in der aktuellen Form seit 1992 und war noch nie Anlass einer Staatskrise oder was Vergleichbarem.

    Mit Bezug zu Prof. Hans-Werner Sinn ist an dieser Stelle an dessen Vortrag zu den Möglichkeiten und Grenzen der Speicherung elektrischer Energie (aus WISO oder anderen Quellen) zu erinnern. Norwegen gehört (wie die Schweiz) zu einem kleinen Kreis von Ländern in Europa, wo die Speicherung elektrischer Energie in Pumpspeicherwerken möglich ist. Norwegen hat in Europa mit Abstand die grössten potenziellen Kapazitäten in diesem Bereich, aber selbst diese würden (so alles verbaut würde) nicht ausreichen um nur den deutschen Überschussstrom aus WISO in den Winter hinüberzuretten, und selbstredend wäre so ein Unterfangen nie und nimmer wirtschaftlich tragbar.

    Der Ansatz wurde in der Folge revidiert, d.h. man hat die Übertragungs-kapazität der Unterseestromkabel drastisch erhöht und den Norwegern versprochen sie könnten im Sommer quasi gratis Überschussstrom aus WISO beziehen und das Wasser in den Stauseen belassen und die Elektrizität dann im Winter teuer in die EU verkaufen.

    Gekommen ist es dann allerdings anders, d.h. da hingen im Winter zusätzlich zu den 5 1/2 mio. norwegischen Stromkunden 83 mio. Deutsche und zig mio. andere EU Stromkunden am Netz. Die Speicherseen leerten sich schnell und der Strompreis schoss in die Höhe. Anstatt zur Strom-Batterie Europas wurde Norwegen zur Steckdose Europas …

    Die Schweiz sollte sich dessen bewusst sein wenn sie ein Stromabkommen mit der EU aushandelt.

  6. Ihr letzter Kommentar bringt einen Teil der anstehenden Problematik auf den Punkt. Die zusätzlich realisierbaren Hydro- Speicherkapazitäten, weder in Norwegen noch in der Schweiz würden ausreichen, um die zur Sicherung der Stromversorgung zwingend notwendigen saisonalen Speicherkapazitäten zu schaffen, falls man wie geplant ausschliesslich auf Wind und beonders Photovoltik setzt. Unter diesen Voraussetzungen müssten alleine in der Schweiz für den Ersatz der Kernkraft (Grundlast-) Kapazitäten rund 6 Anlagen der Grössenordnung Grande Dixance zusätzlich gebaut werden. Der “Netto Null” Ansatz ist hier nicht eingerechnet, würde jedoch zumindest eine Verdoppelung der Zahl solcher Anlagen bedeuten. Nicht vorstellbar, wo solches in der Schweiz noch unter zu bringen wäre. Würde man solches in Betracht ziehen, so müssten Kriterien den Landschaftsschutz betreffend- deren Schutz ebenfalls im Interesse der Bevölkerung ist – über Bord geworfen werden.
    Allein schon dieser technische Ansatz zeigt, dass sich die Ziele, welche sowohl im Klima- als auch im Energiegesetz formuliert sind, wie vorgesehen nicht umsetzen lassen.
    Zudem meine ich, funktioniert ein politischer Ansatz, wie der in Norwegen möglich ist, in der Schweiz nicht. Norwegen ist ein Land mit einer politischen Zentralmacht. Die gewählte Politiker- Clique bestimmt. Man kennt weder das Instrument der Initiative noch des Referendums und solches schon gar nicht auf den verschiedenen politischen Ebenen, wie diese in der Schweiz vorhanden sind. Daher auch die verständlichen Hemmschwellen, verbindliche Vorgaben gemäss ihrem Vorschlag auf Verfassungs- Ebene zu bringen. Solches würde sich dem Einfluss der Bevölkerung weitegehend entziehen.

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