«Für ‘nen Appel und ‘n Ei?» – wie Atomausstieg und Netto-Null 2050 unser Leben verändern

Wohlfeil und bei unverändertem Wohlstand sei der Atomausstieg zu haben – dies versprechen uns Kernenergiegegner seit bald dreissig Jahren. Doch heute werden plötzlich Bescheidenheit, Einschränkung und Verzicht als erstrebenswerte Tugenden propagiert. Wie und wann ist es zu dieser plötzlichen Änderung des Narrativs gekommen?

Am 21. Mai 2017 stimmen die Schweizer Stimmberechtigten dem Energiegesetz zu und beschliessen damit den Atomausstieg. Als Folge davon steht die Schweiz vor dem Umbau ihrer Elektrizitätsversorgung, gilt es doch 26 Prozent Kernenergiestrom zu ersetzen. Wenige Monate später, am 6. Oktober 2017, ratifiziert die Schweiz das Pariser Klimaabkommen. Damit verpflichtet sie sich, gemessen am Stand von 1990, zur Halbierung des CO2-Ausstosses bis 2030 und zu Netto-Null bis 2050. Konsequenz davon: Auch Verkehr und Wärmeerzeugung gilt es jetzt auf elektrische Energie umzustellen. Dies bedeutet nicht weniger als innerhalb von 25 Jahren einen völlig neuen Kraftwerkspark hochzuziehen – einen Kraftwerkspark, der in der Lage sein muss, 73 Prozent (!) des aktuellen Bruttoenergieverbrauchs der Schweiz CO2-frei zu erzeugen. Angesichts dieser gigantischen Aufgabe wundert es nicht, dass der unveränderte Wohlstand der neuen Bescheidenheit und Verzicht gewichen ist. Worauf wir uns dabei einstellen müssen, wird im Folgenden am Beispiel des motorisierten Individualverkehrs erläutert. 

Zuerst gilt es einen kurzen Blick auf die künftige Bevölkerungsentwicklung zu werfen, da eine steigende Wohnbevölkerung einen zusätzlichen Energiebedarf nach sich zieht. Gemäss Bundesamt für Statistik wird für 2050 eine ständige Wohnbevölkerung von 10,5 Millionen Menschen erwartet. Dies entspricht einem Bevölkerungswachstum von 20 Prozent. Dieses Wachstum erfolgt nicht gleichmässig über die gesamte Schweiz. Das grösste Wachstum wird für die Kantone Genf (+30,4%), Waadt (+29.7%), Aargau (+30,2 %), Zug (+29,9%), Zürich (+ 28.9%) erwartet und findet in den Städten statt. Tessin (-5.1 %) und Graubünden (-4,1 %) dagegen sind mit Abwanderung konfrontiert.

Verkehrswende möglich und realistisch?

Wieviel Strom wird die Verkehrswende benötigen? Das Bundesamt für Energie rechnet für das Jahr 2035 gemäss Medienmitteilung vom 10. Mai 2023 neu mit einem Jahresbedarf von 7,3 TWh Strom für E-Mobilität. Im Vergleich dazu: Das AKW Leibstadt produziert im Jahr 10 TWh Strom. Doch dies ist erst die halbe Wahrheit: Nicht nur die benötigte Elektrizitätsmenge, sondern v.a. auch die zeitlich bereitzustellende Ladeleistung ist matchentscheidend. Aufgrund der Arbeitszeiten werden bis auf weiteres 50 bis 80 Prozent der E-Autos in der Nacht, also mehr oder minder zeitgleich, geladen – siehe CNN-Beitrag von Kai Ruhsert «Wird es zu Stromsperren kommen?»

Aktuell sind in der Schweiz 4.7 Millionen Personenwagen zum Verkehr zugelassen. Im folgenden Kasten eine kleine Überschlagsrechnung, um sich ein approximatives Bild von der benötigten Strommenge und Ladeleistung zu verschaffen.

Um alle 3 Millionen E-Fahrzeuge gestaffelt über (nächtliche) 10 Stunden gleichzeitig um 10kWh nachzuladen, ist theoretisch die Stromleistung von 2,5 Kraftwerken der Grösse des AKW Leibstadt erforderlich. Es ist daher zwingend, die Ladezeiten der E-Fahrzeuge zeitlich automatisiert mittels Smartgrid zu organisieren und zu staffeln.

Allein die Umstellung des motorisierten Individualverkehrs auf E-Fahrzeuge erfordert einen Leistungszubau in der Grössenordnung von 2.5 mal 1300 MW und damit zwingend den Betrieb eines flächendeckenden Smartgrids. (Zur «Orwell-1984»-Problematik von Smartgrids siehe CCN-Beitrag von Johannis Nöggerath: “Energiepolitik als Hütchenspiel”).

Massiver Rückgang des motorisierten Individualverkehrs unumgänglich

Allerdings wird eine Verkehrswende mit E-Autos als eins-zu-eins Ersatz für fossile Fahrzeuge nie ein realistisches Ziel des Energiegesetzes bzw. der Netto-Null-Strategie sein: Es ist schlicht unrealistisch, in der Schweiz mit Wasserstrom, PV und Wind heutige 4.7 Millionen Privatfahrzeuge elektrisch zu betreiben, wobei hier Güterverkehrsfahrzeuge noch nicht einmal berücksichtigt sind. Wenn also das KKW-Technologieverbot von 2017 nicht fällt und kein Neubau von Kernkraftwerken möglich werden sollte, so wird die private Mobilität zwangsläufig massiv zurückgehen müssen: Private Mobilität wird dann wieder das Privileg der Reichsten und Wichtigsten sein.

Zurzeit wird diese Tatsache von den Verfechtern von Klima Netto-Null 2050 wenig thematisiert: Zum einen soll wohl der Widerstand des arbeitenden und auf private Mobilität angewiesenen Mittelstandes nicht zu früh aufgebaut werden. Zum anderen hält man die Batterien der fiktiven Gesamt-E-Autoflotte so noch im Spiel (siehe CCN-Beitrag von Johannis Nöggerath Beitrag «Energiepolitik als Hütchenspiel»), um die ungelöste Speicherproblematik bei den Neuen Erneuerbaren mittels «Autospeichern» abzumildern und sie auf dem Papier als winternächtliche Stromlieferanten für den Betrieb der Wärmepumpen, welche ja bis 2050 die fossilen Heizungen ersetzen müssen, einrechnen zu können.

Weitreichende gesellschaftliche Folgen

Die Energiestrategie 2050 mit dem Energiegesetz 2017 im Verbund mit dem der Netto-Null-Strategie des «Klima- und Innovationsgesetzes» wird zu einem umfassenden gesellschaftlichen Umbau und drastischer Einschränkung der individuellen Freiheit führen. Mehr noch: Der gesellschaftliche Umbau ist die conditio sine qua non für den Erfolg der Energiestrategie 2050 und Netto-Null!

Wie umfassend die Preisgabe der privaten Mobilität unser Leben und unser Land beeinflussen wird, ist nur ansatzweise abschätzbar: Für die ländlichen Regionen wird dies zu Abwanderung, Überalterung und Strukturschwäche führen. Parallel dazu erhöht sich dadurch der bereits durch das prognostizierte Bevölkerungswachstum bestehende Druck auf Städte und Agglomeration nochmals massiv. Ausserhalb von Städten und Agglomeration liegende Industrie- und Gewerbebetriebe werden es ohne individuelle Mobilität deutlich schwieriger haben, qualifizierte Arbeitskräfte zu finden. Mit dem Wegfall grosser Anteile der privaten Mobilität intensiviert sich die Belastung der öffentlichen Verkehrsmittel, die auf wichtigen Strecken bereits heute ihre Kapazitätsgrenze erreicht haben, noch einmal drastisch.  Der Ausbau dieser Infrastruktur wird enorme Summen benötigen, die nur über Steuererhöhungen und zusätzliche Lenkungsabgaben zu finanzieren sind. Und auch für die ländlichen Privathaushalte wird sich einiges ändern: Ohne Auto müssen die Einkaufsgewohnheiten angepasst werden, d.h. die grossen online-Lieferanten werden profitieren, die anderen verlieren. Direkt beeinflusst durch weniger Flexibilität und zeitlich längere Arbeitswege wird auch das Leben von Familien, bei denen ein Partner nicht direkt vor Ort arbeitet und auf Mobilität angewiesen ist.

Grosse Transformation in Deutschland – kein Vorbild für die Schweiz

Den meisten Stimmbürgern wird der unvermeidliche gesellschaftliche Wandel bei der Energiestrategie 2050 (2012) und der späteren Abstimmung zum Energiegesetz (2017) in dieser Form nicht bewusst gewesen sein. In Deutschland findet der gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbau unter dem Titel “Grosse Transformation”[1] bereits statt und dies seit 2011. Erste Folgen sind bereits heute erkennbar: Deutschland hat die höchsten Strompreise innerhalb der EU, deutsche Schlüsselindustrien wandern ins Ausland ab. Dazu kommen immer weitergehende und kurzfristig anberaumte dirigistische Eingriffe des Staates in die Freiheit des Einzelnen (z.B. Verbot von Öl- und Gasheizungen ab 2024), die mit staatlichen Transferzahlungen zur Entlastung der Haushalte etwas abgefedert werden. Dies führt zu einer stark wachsenden Staatsverschuldung und Steuerlast, was die schnelle und unwiderrufliche Verarmung des Mittelstandes und weitere Staatsabhängigkeit nach sich zieht.

Für die Schweiz bildet das Klima- und Innovationsgesetz, über das wir am 18. Juni abstimmen (KIG), zusammen mit der «Energiestrategie 2050» (2012) und dem «Energiegesetz» von 2017, die gesetzliche Grundlage, um auch hierzulande so etwas wie eine «grosse Transformation» zu lancieren. Es ist höchste Zeit, dass die liberal-konservativen Kräfte den forcierten Umbau unserer Gesellschaft zum Topthema machen und das euphemistische Klima- und Innovationsgesetz dezidiert bekämpfen.


[1] Wissenschaftlich. Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU): Welt im Wandel. Die grosse Transformation (2011), Hans-Joachim Schellnhuber, einst. Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung PIK

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9 thoughts on “«Für ‘nen Appel und ‘n Ei?» – wie Atomausstieg und Netto-Null 2050 unser Leben verändern”

  1. Obiger Verdacht einer langfristig geplanten Reduktion des Individualverkehrs scheint sich zu bestätigen: Der deutsche Direktor von AGORA-Verkehrswende Christian Hochfeld (Grüne-Bündnis90, Verwaltungsrat bei Oeko Institut, WEF-Member) führte neulich aus, dass man vor hat, den deutschen Individualverkehr von 40 Mio PW um 25% auf ca. 30 Mio zu verkleinern.

  2. Heute Deutschland https://youtu.be/S-MovOkR9RE und bald die Schweiz, wenn wir nicht die Notbremse ziehen. Darum NEIN am 18. Juni.
    Es wird uns eingebläut ‘wir müssen doch das Pariser Klimaabkommen einhalten’. Das war einmal. Das ist alte Wissenschaft, das ist von kompetentester Stelle, keinem ‘Klimaleugner’, als nicht realistisch bereits abgehackt (siehe Vortrag hier https://youtu.be/DG6wO3VLi6s Minute 16.40 Prof. Dr. Jochem Marotzke, Direktor, Max-Planck-Institut für Meteorologie und Mitautor des AR 6, dem neuesten Sachstandsbericht des IPCC ).
    Verstehen wir uns also richtig, mit CO2 bis 2030 halbieren und Netto-Null 2050 durchstieren wären wir bereit, unsere Wirtschaft zu zerstören – ja unseren sozialen Frieden, die Mittelschicht zu opfern, um ein unrealistisches Abkommen einzuhalten und gewisse Subventionen. Drögeler und Staatsquoten Junkies zu bedienen – sicher nicht um ‘das Klima zu retten’.
    Ehrlich wäre es auch, von unserer ‘Wissenschaft’, den wirklichen Stand der Wissenschaft dem Volk klar zu erklären und, konsequenterweise, die Aufkündigung des Pariser Abkommens zu fordern.

    1. Sehr geehrter Herr Plüss, herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Als (Prä-)Historikerin (mit einem Abschluss auch in Wirtschaft) stehe ich staatlich verordneten Transformationen grundsätzlich skeptisch gegenüber: Vom Staat dirigierte fundamentale und auf der kurzen Zeitachse umzusetzende Paradigmenwechsel weisen eine enorm hohe Versagensquote auf: Als Beispiel mögen hier die radikalen Eingriffe der Französischen Revolution in die Sprache, Stalins Lyssenkoismus und die Kollektivierung der Landwirtschaft sowie Mao’s «Grosser Sprung nach vorn» und seine Kulturrevolution genügen. Diese Errungenschaften wurden stets still und leise auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt, hatten aber für unermessliches menschliches Leid gesorgt. Um qualifiziert über eine Transformation unserer Energieversorgung und damit Wirtschafts- und Lebensweise urteilen zu können, ist eine breit geführte, ergebnisoffene gesellschaftliche Debatte dringend nötig. So etwas sehe ich in unseren Massenmedien nicht einmal in Ansätzen. Dort findet bestenfalls und unter dem Titel der Alternativlosigkeit eine stark eingegrenzte Diskussion statt.

  3. Sie haben es richtig erkannt, eine Energiewende, d.h. ein Verzicht auf die Verbrennung von Erdöl und Erdgas, führt zwangsläufig zu Versorgungsengpässen in allen Bereichen, wenn nicht gleichzeitig die Nutzung anderer Energiequellen (Sonne, Wind, Uranium, andere?) massiv ausgebaut wird. Gesellschaft und Politik scheinen aber weiterhin das Ausmass der Transformation und ihre Konsequenzen ausblenden zu wollen.

    1. Sehr geehrter Herr Huber, herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Ja, diese breite gesellschaftliche Diskussion muss erst noch lanciert werden. Insbesondere sollte dabei auch offen darüber diskutiert werden, welche heutigen Abhängigkeiten (Erdöl, Erdgas, Uran, d.h. Saudi Arabien, Russland, Australien/Kanada) wir gegen neue Abhängigkeiten (Photovoltaik, Windturbinen, Lithium, Kobalt, d.h. China, Chile, Kongo) ersetzen. Die 2017 im Vorfeld der Abstimmung zum Energiegesetz vom BfE gemachte Zusicherung, dass «das Geld mit der Energiewende» in der Schweiz bleibe, erweist sich als irreführend und unehrlich. Insbesondere da die Produktion der vorgenannten Rohstoffe und Komponenten in den genannten Ländern ausschliesslich unter Einsatz fossiler Energieträger erfolgt.

        1. Richtig. Die alles entscheidende Frage punkto gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Tragbarkeit ist, ob eine solche Umgestaltung innerhalb einer einzigen Generation (d.h. gemäss Pariser Klimaabkommen bis 2050) oder über den Zeitraum von drei Generationen, also bis 2100 erfolgt. Vahrenholt’s Meinung dazu ist klar: Wir haben Zeit und können überlegt und strategisch ans Werk gehen – wahre Nachhaltigkeit.

  4. Sie haben zwar recht, dass die Elektrifizierung des MIV ziemlich sicher scheitern wird, aber dann kann man die bestehende und zukünftige Verbrennerflotte mit eFuels betanken. Dafür muss nur deren Produktion in Ländern mit massivem Energieüberschuss hochgefahren werden und davon gibt es genug. Gleiches gilt für die Wärmeerzeugung. Alles, was Sie im Artikel von der Elektrifizierung ableiten, ist somit mehr als fraglich.

    1. Sehr geehrter Herr Metzinger.
      Herzlichen Dank für Ihren Kommentar zum Einsatz von e-Fuels für den motorisierten Individualverkehr, der eine ausführlichere Antwort erfordert, als mit 2000 Zeichen möglich ist. Zudem will ich noch einige Aspekte rechnen, was etwas Zeit erfordert.
      An dieser Stelle nur soviel: Die Freien Demokraten in Deutschland stemmen sich gegen das Verbrenner-Aus im Jahr 2035 mit dem Argument der e-Fuels. Dieses Vorgehen mag aus politischen Erwägungen sinnvoll sein, um den Verbrenner-Motor weiter im Spiel zu halten bzw. einem Verbot zu schützen. Wirtschaftlich und ökologisch machen e-Fuels für den motorisierten Individualverkehr allerdings keinerlei Sinn. Der miserable Wirkungsgrad (d.h. von der Erzeugung des e-Fuels bis zur Verbrennung im Fahrzeug) von 15 % Prozent führt zu so hohen Treibstoffpreisen, dass private motorisierte Mobilität für den Mittelstand nicht mehr erschwinglich sein wird.

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