Drohen mit Kipppunkten 

Kipppunkte des Klimas (englisch: tipping points) sind in den Medien ein beliebtes Thema. Es ist Stoff süffiger Horrorszenarien und erlaubt rabenschwarze Prognosen wie die Erde in Zukunft kaum mehr bewohnbar sein könnte. Wenn etwas kippt – und das ist das Spannende daran – weiss man nicht, was danach passiert. Mit Kipppunkten kann man in herrlicher Weise Ängste befeuern. Angst zu erzeugen, ist eines der wirkungsvollsten politischen Instrumente und findet nicht nur in der Klimapolitik seine Anwendung. Es wird so oft verwendet, dass ganz vergessen geht, dass Schrecken der Bevölkerung ein zivilrechtlicher Strafbestand ist. 

Kipppunkte sind nüchtern betrachtet Momente, in welchen ein zuvor stabiles System in ein instabiles System übergeht und sich spontan in unvorhersehbarer Weise ändert. Das kann geschehen, wenn eine Zustandsgrösse sich kontinuierlich verändert. Bildlich am einfachsten darzustellen ist das mit einer Senke, in welcher ein Ball ruht. Wir der Ball angestossen, kehrt er immer wieder in diese Position zurück. Er befindet sich in einer stabilen Position. Wirkt eine Kraft von unten und verändert die Senke in eine Kuppe, wird die Lage des Balls instabil. Er rollt beim kleinsten Stoss irreversibel von der Kuppe runter und wird spontan nie mehr in die alte Position zurückfinden. Das System ist jetzt ein anderes, es ist gekippt.

Kipppunkte, respektive Kippelemente werden erst 2008 mit einer Arbeit von Timothy Lenton et al,[1] in der Klimawissenschaft eingeführt und sind seither ein eifrig diskutiertes Thema. Mitautoren dieses Berichts sind unter anderem die gut bekannten Klima-Apokalyptiker Hans Joachim Schellnhuber und Stefan Rahmstorf. Letzterer hat auch die oben abgebildete Titelfolie[2] eines Vortrags am Computer Chaos Club zu verantworten. Da stösst der böse Adam die Erde mit dem Schups seines Fingers in das grässliche Höllenfeuer. 

Es ist festzuhalten, dass diese Autoren nicht die massgebende Meinung des IPCC vertreten.  Im letzten IPCC Bericht AR6 WG I (The Physical Science Basis) wird das Thema Kipppunkte wohl angesprochen, aber nicht als unmittelbares Risiko betrachtet und meines Wissens auch nicht in die Klimamodelle einbezogen. Auch der IPCC Bericht AR6 WG III (Mitigation of Climate Change) geht nicht auf Strategien zur Vermeidung von Kipppunkten ein.

Bei wissenschaftlichen Arbeiten sollte eigentlich zuerst die Beobachtung eines Phänomens im Vordergrund stehen. Danach stellt man eine Hypothese auf, wie das Phänomen erklärt werden könnte und schliesslich prüft man die Hypothese mit Versuchen oder statistisch relevanten Messungen. 

Die Autoren unter der Federführung von Timothy Lenton untersuchten allerdings nicht, wo Kipppunkte in natürlichen Systemen vorkommen und wie es dazu kommt. Anstelle dessen postulierten sie einfach, dass menschliche Einflüsse natürliche Systeme aus dem Gleichgewicht bringen können. Das ist zwar nicht unplausibel, aber eben auch nicht wissenschaftlich. Das sind klassische «was wäre, wenn» oder englisch «What-if»- Annahmen, die sich empirisch nie verifizieren lassen. 

Mit «What-if»-Szenarien lässt sich beliebig Schindluder treiben. So wenig, wie man deren Gültigkeit beweisen kann, so wenig kann man ihre Fehlerhaftigkeit nachweisen.

Der wissenschaftliche Ansatz wäre, Kipppunkte in natürlichen Systemen zu untersuchen und versuchen zu begreifen, wie sie zustande kommen. Oder anders um, versuchen zu verstehen, weshalb viele natürliche Kreisläufe trotz ihrer Dynamik nicht aus dem Ruder laufen und stabil bleiben. Was verursacht Kipppunkte, was verhindert sie und wo kommen sie überhaupt vor? Wenn man das beginnt zu tun, realisiert man sehr bald, dass Kipppunkte nichts Aussergewöhnliches, sondern das Normalste der Welt sind: 

Das Umfallen eines Kreisels, nachdem durch Reibung eine minimale stabilisierende Drehgeschwindigkeit unterschritten wird. Das Auftreffen eines Regentropfens auf dem Boden ist ein Kipppunkt. Der Tropfen zerplatzt in unberechenbare viele kleine Tröpfchen und wird nie mehr in seinen ursprünglichen Zustand zurückkehren. Ein welkes Blatt, das im Herbst vom Ast fällt, überschreitet einen Kipppunkt. Der Zustand verändert sich spontan und irreversibel. Der Tod nach einem langen Leben ist der ultimative Kipppunkt. Nüchtern betrachtet auch bloss eine spontane, irreversible Zustandsänderung. 

Nichts in natürlichen Systemen ist stabil und auf alle Zeiten gleich. Kein natürlicher Kreislauf verläuft für alle Zeiten stabil und kann nicht zusammenbrechen. Verblüffend bei vielen Kreisläufen sollte nicht der Zusammenbruch sein, sondern viel mehr ihre Stabilität. 

So ist es für einen Geologen zum Beispiel verblüffend, dass sich der Salzgehalt der Meere über Millionen Jahre nur geringfügig verändert, obwohl Flüsse tagtäglich Millionen Tonnen Mineralien in die Meere eintragen und stündlich Millionen Tonnen Wasser aus den Meeren verdampfen. Oder weshalb der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre in der Erdgeschichte so unglaublich stabil bleibt, obwohl er ausschliesslich durch die Photosynthese kontrolliert wird. 

Der Mensch verändert mit dem Verbrennen fossiler Brennstoffe die CO2-Konzentration der Atmosphäre. Das hat Auswirkungen auf das Klima. Dass sich im Umkehrschluss das Klima aber nicht mehr verändert, wenn diese Emissionen ausbleiben oder sogar rückgängig gemacht werden, ist ein Trugschluss. Und dass sich damit sogar Kipppunkte mit dramatischen Konsequenzen vermeiden liessen, ist eine recht abenteuerliche Annahme, wissenschaftlich ist sie auf keinen Fall.

«Aber man muss doch was tun». Das ist eine nachvollziehbare Reaktion, doch ist es vermutlich zielführender, wenn Klimawissenschaftler zuerst mal untersuchen, weshalb das System Erde so verblüffend robust ist und wo die effektiven Schwachstellen sind, statt a priori mit einer Agenda anzutreten, wie übel der Mensch das Klima bedroht. 

Der menschliche Einfluss beschränkt sich bei weitem nicht auf das Emittieren von Kohlendioxid, das nota bene kein Schadstoff, sondern der unverzichtbare Nährstoff sämtlicher Pflanzen ist. Das wissen auch die besorgten Klimawissenschaftler. Aber das würde ihnen ihre Wichtigkeit nehmen, die sie sich anmassen. Und es würde all die Geschäftsmodelle in Frage stellen, die darauf aufbauen. Obwohl jeder vernünftig denkende Mensch wissen sollte, dass es zur Sicherung einer lebenswerten Zukunft weit mehr braucht, als nur CO2 zu vermeiden.


[1] Tipping elements in the Earth’s climate system. (Timothy M. Lenton, Hermann Held, Elmar Kriegler, Jim W. Hall, Wolfgang Lucht, Stefan Rahmstorf, Hans Joachim Schellnhuber).- PNAS, Vol 105, No. 6, Feb. 12, 2008

[2] Titelfolie Vortrag Prof. S. Rahmstorf am Computer Chaos Club 4.1.2021 https://youtu.be/FOb079cbIoM

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9 thoughts on “Drohen mit Kipppunkten ”

  1. Sehr guter Beitrag. Danke.
    Es gibt vermutlich 2 wesentliche Kipppunkte:

    1. Kipppunkt: Das Auftauen des “Schneeballs Erde” vor ca. 700 Millionen Jahren, als sie vermutlich bis zum Äquator “stabil” zugefroren war, und dann effektiv aufgetaut ist.
    2. Kipppunkt: Das “Runaway Greenhouse”, so wie es der Venus passierte. Wenn die Sonne in ein bis zwei Milliarden Jahren die allererste Ausdehnung zum “roten Riesen” zeigt, dann verdampfen die Ozeane auf der Erde, und der Treibhauseffekt wird so stark, dass die eingestrahlte Energie nicht mehr ausreichend schnell in den Weltraum abgeführt wird.

    Der eine globale Kipppunkt, also vor 700 Mio Jahren, der andere in ca. 1 Mia Jahren. Andere, in letzter Zeit von Klimaprofessor-Aktivisten postulierte Kipppunkte sind in der seriösen Klimawissenschaft nicht bestätigt. Auch die Story mit Methan aus dem Permafrost Sibiriens, die eine Zeitlang herumgeboten wurde, hat sich als “Sommerferienzeit-Füller” in den Medien erwiesen.

    1. Ihre Vermutung, dass die Erde vor ca. 700 Mio Jahren bis zum Äquator stabil zugefroren war, steht im Widerspruch zu den Gesetzen der Thermodynamik:
      Es kann nicht sein, dass es auf der Erdoberfläche zu irgendeinem Zeitpunkt stabil kälter war als im Erdinnern. Noch heute ist es im Erdinnern deutlich wärmer als auf der Erdoberfläche (==> Vulkane), die Oberfläche der Sonne war noch nie kälter als die Erdoberfläche. Der von Ihnen vermutete erste “Kipppunkt” hat also nie stattgefunden!
      Die Sonnenenergie wird durch Wärmestrahlung nur dann auf andere Himmelskörper übertragen, wenn diese kälter sind als die Sonnenoberfläche. Die Intensität der Strahlung ist proportional zur Temperaturdifferenz und umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung der Himmelskörper von der Sonne. Solange die Erdoberfläche wärmer ist als die Oberfläche anderer Himmelskörper, strahlt auch die Erde Wärmeenergie auf diese anderen Himmelskörper ab und wird dadurch kälter. Das gilt nicht nur für die Erde, sondern für sämtliche Himmelskörper untereinander, insbesondere diejenigen unseres Sonnensystems. Betrachtet man unser Sonnensystem als geschlossenes System, so setzt sich die Wärmestrahlung so lange fort, bis sämtliche Himmelskörper des Systems gleich warm sind. Zu diesem Zeitpunkt haben nicht nur die Venus, sondern auch weitere sonnennahen Planeten bereits den Hitzetod (= Kipppunkt) erlitten.

  2. Eines ist sicher, die Climate Tipping Points sind nicht das Ergebnis von tiefschürfenden Gedankengängen unserer Bundesrätin für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation.
    Viel trivialere Belange kann Sie auch mit Hilfe des BAFU nicht beantworten.
    Einer meiner Briefe an Sie, stellte die von mir bewusst gewählte Frage: „Wo liegt der optimale CO2-Gehalt für Fauna und Flora?“ Die Antwort des BAFU: „Ihre Frage ist keine einfache, denn ein optimaler CO2-Gehalt lässt sich nicht allgemein gültig bestimmen“. Erstaunlich, wo doch jeder Gemüsebauer weiss, dass z.B. die Tomaten am besten bei 800ppm CO2 im Treibhaus gedeihen und man schon längst feststellt, dass die Welt dank der CO2-Zunahme grüner* wird…..,

    *https://www.nature.com/articles/nclimate3004

  3. Sehr schöner Beitrag.
    So klar geschrieben, dass ihn eigentlich auch zuständige Bundesrätinnen und Parlamentarier verstehen sollten, zumindest wenn sie ihre ideologischen Scheuklappen ablegen würden.
    Das bedeutet aber auch, dass diese Leute nicht davon ausgehen können, durch eine Annahme ihrer teils konfusen, teils chaotischen CO2-Reduktions-Vorstösse würden alle Probleme gelöst.
    Die Klima-Erwärmung findet statt und diese Leute sind in der Verantwortung, allfällige negative Auswirkungen möglichst klein zu halten, z.B. durch bauliche Massnahmen (wie etwa Stauseen, Bewässerungsanlagen u.dgl.).

  4. Ich kann mich den Kommentaren nicht anschliessen. Markus Häring hat schon viele bessere Beiträge gehabt. Das sind Allgemeinheiten, auf die effektiven Risiken von Kipppunkten aufgrund der Klimaerwärmung für unsere Gesellschaften wird nicht eingegangen, das ist schade.

  5. Guter Text! Spannenderweise kommentiert praktisch niemand von der anderen (Klima-) Seite die Aussagen… die halten wohl einfach den Kopf unten. Wissen wohl keine guten Antworten auf die Aussagen von Markus Häring.

  6. Alle in der Erdgeschichte bisher beobachteten oder beobachtbaren Kipppunkte sind ausschliesslich das Ergebnis natürlicher Prozesse. Das Neue ist die “Störung” dieser Prozesse durch menschliche Aktivität, was die Menschen intuitiv begreifen. Deshalb die politische Wirksamkeit des Arguments “Kipppunkte”.

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